Die Offenbarungen über die Intendanz beim Rundfunk Berlin-Brandenburg schüren die Diskussion über die öffentlich-rechtlichen Radio- und Fernsehanstalten in Deutschland. In meinen Büchern „Geliebte Verblödung“ (2017) und „Anmerkungen zum Fernsehen“ (2019) habe ich auf einige längst fällige Veränderungen hingewiesen. Denn die Gebührensender verfolgen schon seit dem Entstehen des Privatfunks vor 38 Jahren eine falsche Strategie. Der Druck steigt, ein Wechsel ihrer Programm- und Finanzpolitik ist unerlässlich.
Vorab zur Klarstellung: Wir genießen in Deutschland das zweitbeste Informationsfernsehen der Welt (nach Großbritannien). Wer einmal in Asien, in Südamerika, in Italien oder in Osteuropa ferngesehen hat, wird nicht tauschen wollen. ARD und ZDF produzieren erstklassige Beiträge und Sendungen – aber eben fast ausschließlich in Spartenkanälen wie 3Sat, Arte, Phoenix, Kika, ZDFneo, One. Die Großsender ARD und ZDF selbst tun viel dafür, sich mit ihrer Anpassung nach unten überflüssig zu machen. Denn deren seichte Unterhaltung erleben die Zuschauer ebenso und mitunter besser bei Sat1, RTL, Vox und vielen anderen Kommerzkanälen.
In der öffentlich-rechtlichen Hauptsendezeit zwischen 19 und 23 Uhr wechseln sich Böser-Täter-wird-von-guter-Kommissarin-überführt-Krimis ab mit peinlich-betulichen Shows wie „Wer weiß denn sowas?“, „Groß gegen Klein“ und „Frag doch mal die Maus“. Zwischendurch laufen im Hausfrauen- und Rentner-TV von ARD und ZDF seit vielen Jahren unerhörte Stereotypen-Bombardements von Trivial-Queens wie Donna Leon, Rosamunde Pilcher, Charlotte Link, Katie Fforde, Inga Lindström, Dora Heldt, Cecelia Ahern und Utta Danella: Rührstücke, Seichtgebiete, romantische Liebesgeschichten vor traumhafter Kulisse, Schnulzen-TV mit einem Schuss Fremdenverkehrsreklame. Das sendende Mittelmaß in Form von visualisierten Groschenromanen ist Kitsch as Kitsch can – Massenware, so ambitioniert und passgenau wie die hautfarbenen Bomberschlüpfer bei Woolworth. Wer das mag, wird sicher selig.
Die vielen abendlichen Morde und Totschläge beim Gebührenfunk werden allesamt sauber gelöst und zu den Akten gelegt. Bloß nichts derangieren. Gern bleiben ARD und ZDF bei ihren Chefärzten, Oberförstern und Kreuzfahrtschiff-Kapitänen. Da ist die Welt übersichtlich, die Rollen sind einfach, verständlich, berechenbar. Gestaltwandler und Trickster kommen kaum vor – von unsympathischen Helden zu schweigen. Anspruchsvolle Drehbuchschreiber und Dramaturgen fühlen sich nicht angesprochen. Selbst die Gebrüder Grimm konnten reizvoller erzählen.
Die Gebühren-Großsender ziehen das kulturelle Niveau
beständig weiter nach unten
BrandEins hat in einem Porträt der ARD-Produktionstochter Degeto, die im Ersten für die Trivialerzählung zuständig ist, anhand eines Beispiels feinsinnig dargelegt: „Irritierend nur, dass im ‚Traumhotel Brasilien‘ ständig unmotiviert Schönheiten im Tanga durchs Bild laufen, womöglich weil der österreichische Regisseur Otto Retzer seine Karriere einst mit Sexfilmchen begann. Die hölzernen Dialoge, die auch von denjenigen Schauspielern, die es eigentlich besser könnten, teilnahmslos aufgesagt werden, kann man als Zuschauer leicht mitsprechen, denn es wird Phrase an Phrase gereiht und kein Klischee ausgelassen.“ Und weiter über die Wahl der Inhalte: „So wurde immer mehr Lore-Romanstoff produziert: ‚Neue Chance zum Glück‘, ‚Liebe, Lüge, Leidenschaften‘, ‚Sehnsucht nach Liebe‘ und so weiter und so fort – Schmalz ohne Ende. Der Bundesverband Regie beklagte die ‚Degetoisierung‘ des öffentlich-rechtlichen Fernsehens.“
Die anspruchsvolleren Inhalte, die schwierigeren Themen, die nicht ganz so populären Produktionen werden – sofern sie überhaupt angefasst werden – zunehmend auf Minikanälen versteckt, die allenfalls von einer Bildungs- und Kultur-Elite rezipiert werden. Was im Vollprogramm läuft, ist Mainstream, ein populistischer Unterdurchschnitt, der die Angstkonkurrenz der Öffentlich-Rechtlichen dokumentiert.
Ein Beispiel: die selbst produzierten Prime-Time-Filme des ZDF. Verantwortlich für diese Art von Unterhaltung ist auf dem Lerchenberg im Jahr 2014 ein grauhaariger Mann mit bravem Blick und strenger schwarzer Hornbrille: Reinhold Elschot. Die Süddeutsche Zeitung widmete seiner Art Unterhaltungspolitik eine ganze Seite Drei: „Frauen vor Stusslandschaft“. Darin bringt sie das Problem mit solchen „höheren Quasibeamten“ in einflussreichen Kulturpositionen auf den Punkt: „Amerikanische Serien erzählen von Figuren, die man nicht immer versteht oder die man nicht mal leiden kann; Figuren können gestört sein, Verbrecher oder nur Arschlöcher. Fragt man in Deutschland bei Autoren oder Produzenten, hört man von den Bedenkenträgern bei ARD und ZDF: bitte wenige Handlungsstränge, bitte eine liebenswerte Hauptfigur, bitte ein Plot, der auf Anhieb von jedem zu verstehen ist.“ So will es das ZDF ebenso wie die ARD der Masse recht machen. Anspruchsloses Quotenprogramm. Die Menschen in den Filmen und Serien sind schwarz oder weiß, gut oder böse. Grauwerte, richtiges Leben: nicht opportun. Was das Individuelle und das Miteinander wirklich ausmacht, seine Komplexität, seine ungeraden und schwierigen Probleme, seine vielschichtigen Menschen, seine Überraschungen und Verstörungen, das hat keinen Platz bei dem Mann für die Millionen Senioren, die sich bei seiner Art von Banalfilm gut unterhalten fühlen. Die SZ seziert: „Elschot: ‚Ich merke, dass ich schwierigere Themen besser unterbringe, wenn ich sie in einen Kriminalfilm verpacke.‘ Pillen im Schokokuchen. Man sitzt Elschot gegenüber und wundert sich über diesen Mann, der die Dänenserie ‚Kommissarin Lund‘ großartig findet und gerne über neue Geschichten spricht – und der doch hinter netter, etwas unscharfer Art eisenhart für sich beschlossen hat, seine Lebensleistung in Zuschauermillionen abzurechnen. Warum wollen diese Redakteure nicht mal eine Marke setzen? Wieso beteiligen sie sich für all die vielen Milliarden, die in Deutschland an Gebühren fließen, nicht am Goldenen Zeitalter des Fernsehens? Mal nachfragen. Warum also, Herr Elschot, machen Sie immer ein Programm für die sechs Millionen, die ohnehin zuschauen? Wieso nicht auch mal ein Programm für die Millionen, die nicht (mehr) zuschauen? Elschot schaut leidend bei solchen Fragen, dann sagt er: ‚Wir sind ja kein Abo-Sender, wir sind nicht HBO, wir sind nicht Netflix. Wir werden von allen Menschen bezahlt.“ Der Mann hat seine Sprachregelungen immer parat. Welcher Kultur und Ambition er sich verpflichtet fühlt, dokumentieren seine kruden Statements. Auf seine Weise trägt er zur Bestätigung des niederen Massengeschmacks bei.
Intendanten, die meinen, sie müssten Quotenfetischismus betreiben
und dabei gänzlich kritikresistent sind
Männer wie er in einflussreichen Positionen hinter der Kamera und manche andere vor der Kamera sind das Problem der Haushaltsabgabe-Sender. Bleibt hinzuzufügen, dass die Intendanten in ihrer Vorstellung vom Mainstream-Medium, das auf keine Einnahmequelle verzichten darf, das regelmäßig mehr Gebühren fordern und den Quotenfetischismus betreiben muss, auch gänzlich kritikresistent sind. Das Merkmal Kritikresistenz zeichnet nicht gut funktionierende Organisationen oft aus.
Die Redakteure müssten wieder in die Lage versetzt werden, Inhalte, Formate, Sendungskonzepte zu bestimmen, und zwar in einer kreativen Atmosphäre, mit der Freiheit zum Scheitern bei den großen Marktanteilen, immer orientiert an der selbst definierten Qualität – und unabhängig von jeglichen Rücksichten. Die inhaltlichen Grenzen des öffentlich-rechtlichen Fernsehens sind leider seit Jahren deckungsgleich mit den Grenzen der größeren politischen Parteien.
Ohne Not haben die Haushaltsabgabe-Anstalten
das System der Quotenfixierung mitgemacht und auf sich bezogen
Die Gebührensender stehen außerhalb der Ökonomie, sie verwalten sich selbst, sind festgefahren in Verwaltungshandeln und durchdrungen von Parteieneinfluss – man betrachte nur einmal, wie sich der ZDF-Fernsehrat aus Parteifunktionären, ehemaligen Parteifunktionären sowie Mitgliedern der Parteien zusammensetzt. Oder wie dort erkennbar peinlich seit Jahrzehnten die vier wichtigsten Positionen – Intendant, Programmchef, Verwaltungschef, Chefredakteur – unter politischen Proporzgesichtspunkten ausgeklüngelt werden (in aller Regel zwei rote und zwei schwarze Besetzungen). Dabei kann der Intendant wie ein absolutistischer Herrscher leben. Die Welt außerhalb seines Senders versteht er womöglich nicht. Er denkt groß, in Kategorien von Weltmeisterschaft, Olympia, Tatort und heute journal. Das ist seine Welt.
ARD und ZDF haben ohne erkennbare Not das System der Quotenmessung und -fixierung der Kommerzkanäle von Beginn an auch auf sich bezogen und mitgemacht. Die Folge: Um mitzuhalten mit den Marktanteilen der privaten Kanäle, haben die beiden ihre Hauptprogramme ohne Rücksicht auf Mainstream getrimmt; alle Kanten wurden abgeschliffen, alles, was nach Bildung aussah oder mit Anspruch verbunden war, musste weichen. Die Spartenkanäle von 3Sat, Arte, Phoenix und Co. waren für die beiden Aushängeschilder die Resterampe für anspruchsvolle Minderheitenprogramme.
Die Programmchefs wundern sich, warum der Altersdurchschnitt der Zuschauer die 60 Jahre bereits überschritten hat. ARD und ZDF fallen die Zähne aus wie ihrem Publikum. Wenn die vergreisenden Dickschiffe unter den Gebührensendern als gesellschaftlich notwendige Einrichtungen überleben wollen, müssen sie einiges ändern, nicht nur die Programmschwerpunkte. Denn die Kritik wird lauter, gerade und beständig nach der Einführung des sogenannten „Rundfunkbeitrages“ bzw. der „Haushaltsabgabe“ Anfang 2013, jener Zwangsgebühr, die einer Steuer für die Erhaltung eines öffentlich-rechtlichen Rundfunks ohne Profil und ohne Vision gleichkommt.
Flache Inhalte – immer schön ausgewogen
für die beiden politischen Lager
Das Fernsehen der ersten Stunde ist publizistisch entseelt. Selbst kurieren kann es sich offenbar nicht. Sein Zustand wird immer schlimmer. Es verliert Zuspruch, Vertrauen, Glaubwürdigkeit, seine Rolle. Es ist unfähig zu lernen, zeigt sich intransparent, störrisch und besetzt die führenden Positionen mit den falschen Köpfen – den Gestrigen, die meinen, man könne alles so weitermachen wie immer. Die Gebührensender lassen sich leiten und kontrollieren von Partei- und Regierungsgetreuen und machen Programm für Alte (das sind die treuesten Wähler). Sie leisten sich aufgeblähte Verwaltungen, politisch korrekt, immer schön ausgewogen für die beiden Parteien-Lager, und bieten flachste Inhalte, viel Geballer und heile Welt – stets mit einem unsicheren Blick auf die Privatsender-Erfolge, denen sie dann sogleich langweiligere Duplikate entgegensetzen. Erfolge verbuchen ARD und ZDF indes beim Erwerb von Rechten für wichtige Sportereignisse wie Fußball-WM, Fußball-EM, Fußball-Champions-League oder Olympia. Warum? Weil sie für dieses kurzzeitig wirkende Verjüngungsserum ihrer Zuschauerschaft Mondpreise bieten, bei denen sie sicher sind, dass kein wirtschaftlich rechnender TV-Markteilnehmer sie auch nur annähernd in Betracht ziehen könnte.
Die Ansprache der Masse hat die journalistischen Kriterien zur Seite geschoben. Die Selbstkommerzialisierung bzw. „RTLisierung“ des öffentlich-rechtlichen Rundfunks ist alarmierend. ARD und ZDF und viele Dritte Programme haben sich abgewendet von jungen Menschen, von Minderheiten, von Kulturinteressierten, von Intellektuellen, von jenen, die sich ein anspruchsvolles Fernsehen als kulturell wichtige gesellschaftliche Instanz vorstellen können. Die angenommenen Mehrheiten haben die öffentlich-rechtlichen Anstalten abgelenkt von ihrem Auftrag. Die Intendanten sind so verunsichert, dass sie meinen, zuvörderst den Unterhaltungsbedürfnissen des Durchschnittszuschauers gerecht werden zu müssen. So wie RTL und Sat1, nur eben finanziert durch eine Kombination aus Gebühren und Werbung sowie (verhältnismäßig) geringen Vertriebserlösen. Das kritisiert die Privatwirtschaft seit vielen Jahren und zu Recht. Die öffentlich-rechtliche BBC, die ungefähr die Hälfte der Einnahmen von ARD und ZDF zur Verfügung hat, belästigt ihr Publikum nicht mit Werbung. Warum auch? Warum aber ist die Werbung samt „Sponsoring-Werbung“ (in Form von kurzen Spots auch außerhalb der Reklame- und Mainzelmännchenzeit zwischen 18 und 20 Uhr) bis heute nicht abgeschafft worden? Bei der ARD bringen Werbe- und Sponsoring-Erlöse sechs Prozent der gesamten Einnahmen (https://www.ard.de/die-ard/wie-wir-funktionieren/Finanzen-der-ARD-Einnahmen-und-Ausgaben-100). Trotz der mit großem Abstand weltweit höchsten TV-Gebühren-Milliarden! Warum wird so etwas den Beitragszahlern wie selbstverständlich zugemutet? Warum versagt hier die Kontrolle seit Jahrzehnten? Warum werden Absurditäten nicht erkannt und behoben?
Diese Entwicklungen müssten dringend reorganisiert und auf den Kopf gestellt werden. Aber das geht nicht in einem System, das nichts mehr fürchtet als Veränderungen und sich darauf konzentriert, sich selbst und seine Einnahmen zu verteidigen. Dazu nutzt es zwei Verbündete: die Politik und die von der Politik bestimmten Bundesverfassungsrichter. Die Richterinnen und Richter in Karlsruhe haben dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk, der von der Gesellschaft alimentiert wird, bislang stets eine „Bestands- und Entwicklungsgarantie“ gewährt. Aber auch die Damen und Herren in den Roben können sich der Wirklichkeit nicht verstellen und müssen anerkennen, dass das öffentlich-rechtliche Fernsehen in Deutschland weder seinen Auftrag proklamiert hat noch die nötigen Maßnahmen für Reformen einleitet und auch nicht zu einem Spiegel oder sogar zu einem Antreiber des gesellschaftlichen Fortschritts und der Gerechtigkeit geworden ist wie noch in den sechziger und siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts.
„Sie wissen nicht,
warum sie noch auf der Welt sind“
Die geschlossene Gesellschaft der Anstalten definiert nicht, was „Grundversorgung“ ist, was sie darunter versteht, welche Inhalte ihr wichtig sind, welches Selbstbild sie hat, wem sie sich verpflichtet fühlt, warum sie für die Gesellschaft wichtig sein soll. Die Gebührenanstalten haben sich verkapselt, eingeschlossen in ein System aus parteipolitischen Geflechten, Rechtfertigungen, finanziellen Forderungen, Ausgewogenheitspostulaten, Pfründesicherungsmaßnahmen und Alte-Männer-Reden von „Grundversorgung“ und „Informationsfreiheit“ und „Bildungsanspruch“. Aber nicht nur die Inhalte und die Struktur des öffentlich-rechtlichen Rundfunks stehen zur Disposition, sondern auch dessen Kontrolle und Aufsicht. Das Problem der öffentlich-rechtlichen Anstalten geht tief, wie Zeit-Autor Thomas Assheuer diagnostiziert hat: „Sie wissen nicht recht, warum sie noch auf der Welt sind. Sie erinnern an königliche Kuriere, die ihren Auftrag vergessen haben. Sie rasen durch den Äther und wissen nicht mehr, warum.“ Das unpolitische, niveaulose Unterhaltungsfernsehen trägt zu einer intellektuellen Trostlosigkeit in der öffentlichen Auseinandersetzung bei, die das Wort Diskurs nicht mehr verdient. Die Gremien und die Senderfürsten nutzen das Fernsehen so als Sachstandsverwalter des politischen Status quo – eine probate Hinhaltetaktik.
Wann und bei welchen Themen haben ARD und ZDF publizistische Meilensteine gesetzt? Wo haben sie relevante Themen von sich aus auf die Agenda gebracht? Welche Themen haben sie sich zu eigen gemacht, weil sie die Gesellschaft vorangebracht hätten? Ein gerechteres Steuersystem? Ein modernes Bildungswesen? Den Atomausstieg? Die Energiewende? Die Integration von Ausländern? Eine solide Pflege für Bedürftige? Die Abschaffung des vormodernen Ehegattensplittings im Sinne einer dann verstärkten beruflichen Förderung und Besserstellung von Frauen? Ein wirklich kinderfreundliches Deutschland? Die Bekämpfung der Pflegekatastrophe? Einen Ausgleich der Lebensverhältnisse von Stadt und Land? Den Investitionsstau bei der Bahn? Die Digitalisierung Deutschlands? Nichts dergleichen. Die Themen werden nur kurz, akut und sehr oberflächlich zwischen Show, Komödie, Werbung, Krimi, Klatsch und Katastrophen im Sinne einer Chronistenpflicht angerissen. Offenbar glauben die Programmverantwortlichen, solche Themen seien zu kompliziert fürs Fernsehvolk. Immerhin gibt es – wie als Alibi – Scobel, der noch vor laufender Kamera Komplexes besprechen darf.
Mit ihrem seltsamen Intendantenfernsehen haben ARD und ZDF den Bildungs- und Kulturanspruch ganz offensichtlich zu den Akten gelegt. Sie fühlen sich merkwürdigerweise unter einem Quoten- und Marktanteils- und Wettbewerbsdruck durch die privaten Sender – kurzum: Das Selbstbewusstsein der einst so stolzen und unbequemen öffentlich-rechtlichen Riesen hat extrem gelitten. Werner Filmer, ehemaliger stellvertretender Chefredakteur des Westdeutschen Rundfunks, diagnostizierte: „Leider lässt das Korsett, das sich die Programmdirektoren geschaffen haben, so gut wie keine Sprengungen, kaum Überraschungen zu. Alles genormt, alles übersichtlich, alles wiederfindbar! Damit verkommt das öffentlich-rechtliche System zum Plätscherbrunnen provinzieller Gemütlichkeit. Es wurde ex cathedra arrangiert wie deutsche Fußgängerzonen: übersichtlich für Kauf- und Spielflächen. Ausgesperrt wurden streunende Köter, Wermutsbrüder, Straßensänger, d.h. Überraschungen. Vom wahren Leben wurde zu viel wegretuschiert. Und nun sitzen sie in der Patsche, starren fasziniert auf Einschaltquoten, geben sich tiefsinnig – und werden immer unfähiger, ein Programm zu machen, das neugierig macht.“ ARD und ZDF leben mit dem Spott, sie seien die einzigen Verwaltungen, die sich auch noch Sender leisten können.
Wenn die Qualität der Programme weiter sinkt,
befürchten Kulturpessimisten den Untergang der Welt
Wenn sich neben der Fiktion auch die Information ähnlich nach unten orientiert, verlieren die Anstalten weiter an Identität und Wert. Im Informationsprogramm ist Qualität geknüpft an journalistische Recherche. Das Programm von ARD und ZDF sollte einmalig sein und sich folglich extrem unterscheiden von den im Durchschnitt anspruchslosen Angeboten kommerzieller Sender. Es geht auch und vor allem um inhaltliche Exzellenz: Auf austauschbare Plaudersendungen, lebensferne Volksmusikabende, peinliche Lästershows, brave und sich anbiedernde Mikrofonhalter können die Gebührenzahler verzichten. Wenn die Qualität von ARD und ZDF weiter sinkt, die Intendanten die Sender weiter kujonieren, ihre Programme sich immer weniger von denen der Kommerzkanäle unterscheiden, befürchten nicht wenige Kulturpessimisten den Untergang der Welt in Deutschland. Offensichtlich begreifen die öffentlich-rechtlichen Gebührensender ihre Programme in den Hauptsendern nicht mehr als Kulturgut. Der Kotau vor den Einschaltquoten und die Selbstkommerzialisierung der Programme haben die Reputation von ARD und ZDF zunehmend geschädigt. Das deutsche Fernsehen wird international ungefähr so gefeiert wie der deutsche Thermoskannenkaffee auf dem Landgasthof. „Von den Deutschen erwartet die Welt die besten Autos und Maschinen, nicht die besten Filme und Serien“, so Christopher Keil in der Süddeutschen Zeitung.
Privatsender haben das Konzept des Programms ersetzt
durch das Konzept des Flows
Im Gegensatz zu den öffentlich-rechtlichen haben die kommerziellen Sender ihre Programme vom Start weg, also seit Mitte der 1980er Jahre, als Wirtschaftsgut betrachtet. Das liegt in der Natur ihrer Finanzierung und ihres Wesens. Sie haben keinen Versorgungsauftrag und müssen sich nicht kümmern um eine humane gesellschaftliche Entwicklung. Sie verkaufen die Aufmerksamkeit ihres Publikums an die werbetreibende Wirtschaft.
Bei den Privatsendern, wo geschäftlicher Erfolg und Relevanz der Produkte nicht gleichbedeutend sind, geht Ökonomie mitunter vor Moral. Wenn Gemeinheiten erfolgreich sind, werden sie nicht immer hinterfragt, sondern der Produktionslogik von Angebot und Nachfrage unterworfen. Diese Sender haben die Programmfreiheit genutzt, um die Werte der Aufklärung zu ignorieren und die Hochkultur aus dem Fernsehen zurück in deren heilige Hallen zu drängen. Wodurch sich die Verantwortlichen der ersten Stunden bei RTL, Sat1 und Co. auszeichneten, das war ihr Mut, Konventionen zu brechen, Sehgewohnheiten zu erweitern, Neues auszuprobieren. Sie wussten, dass sie in Sachen Seriosität, Finanzstärke, Informationshoheit nicht mithalten konnten mit den Anstalten. Trotzdem war die Wirkung des Kommerzfernsehens durchschlagend: Die Programmverantwortlichen haben die Spätnachrichten erfunden, den Nachmittagstalk, das Frühstücksfernsehen, Castingshows, Telenovelas und das 24-Stunden-Programm, dazu gab’s Erotik und bis heute Boulevard-Magazine sowie irre Scripted-Reality-Sendungen. Dass man im Trash-TV Menschen beim Fäkalieren, Kopulieren und Sichübergeben zusehen kann, haben Kirchenleute, Gewerkschaftsvertreter und Politiker oft moniert. Bundeskanzler Helmut Schmidt soll 1979 gesagt haben, er halte die damals avisierte Einführung des privaten Fernsehens gesellschaftlich für „gefährlicher als die Kernenergie“.
Das schließlich nach dem Prinzip der Außenpluralität installierte kommerzielle Fernsehen hat keinen öffentlichen Auftrag zu erfüllen. Die Kommerzsender haben die Funktion, ihren Werbekunden Publikum zu liefern und stehen mithin unter dem Druck von Werbereichweiten. Möglichst viele Menschen sollen einschalten und dranbleiben. Themenbereiche, für die sich Minderheiten interessieren, beispielsweise Kultur oder Wirtschaft, haben da kaum Chancen. Selbst Politik gibt’s fast ausschließlich in Nachrichten als unterhaltsame Schnipselware, oft unpassend unterlegt mit dramatisierender Musik. Das hat mit Kommunikation, mit Austausch, mit Vermittlung wichtiger Botschaften oder Erkenntnissen kaum etwas zu tun. Vielmehr geht es RTL und Co. um die Übertragung, ums Senden, um den Prozess, Menschen einzufangen. Die kommerziellen Kanäle wollen Massenbedürfnisse befriedigen. Gesendet wird, was viele gucken; über Geschmack wird in der Regel nicht lange gestritten. Was der Konsum der Sendungen für die zuschauenden Massen bedeutet, welche Wirkungen die Inhalte haben – geschenkt! Privatsender sind nicht verpflichtet, dem Gemeinwohl zu dienen oder der Demokratie. Eine leidenschaftliche Kritik an Missständen ist ebenfalls nicht ihre Aufgabe. Sie können, so lange sie sich auf dem Boden der Gesetze bewegen, tun und senden, was sie wollen. Die Kommerzkanäle haben das Fernsehen von Beginn an als Dienstleister für die Nutzer betrachtet und nicht als Verlautbarungsmedium der Politik oder als Bildungskanone oder als Instrument zum Predigen von Werten und Kultur. Ihr Credo lautet: Fernsehen ist keine Kultur der Eliten, sondern ein Kiosk, wo jeder, der will, jederzeit etwas erhalten kann (und sei es etwas Schädliches), wenn er etwas Zeit investiert. Die Währung ist die Lebenszeit der Konsumenten. Dabei geht es nicht um Moral – allenfalls ums quotenträchtige Moralisieren. Die Kommerzsender fokussieren sich auf sensationelle Ereignisse, die sie den Zuschauern bieten wollen. Folglich kann nicht das Gewöhnliche im Vordergrund stehen – vielmehr geht es ums Bizarre, uns Extreme. Das Fernsehen bringt das Spektakel ins Wohnzimmer, in die eigene Trutzburg. Das Privatfernsehpublikum will sich auf dem Rummel vergnügen, Anteil nehmen, etwas erleben – und gleichzeitig körperlich passiv sein.
Vor allem die Magazine der Privatsender schrauben die Ansprüche konsequent nach unten. Es regiert die Niveaulosigkeit: Klatsch, Skandale, Sensationelles, Rot- und Blaulicht. Optisch aufgemotzt werden Beiträge gern durch unbegründete Schlüssellochperspektiven mit versteckter Kamera, weil’s so investigativ aussieht. Unfälle und Kuriositäten werden behandelt, Filme schlecht montiert, Geschichten miserabel erzählt. Da wird geblendet, gezoomt und geschwenkt, dass einem schlecht wird. Offenbar verantworten Praktikanten und Volontäre einen Großteil des Programms. Wann getextet wird, was ein O-Ton ist, welche Bedeutung eine Blende hat, wie man Spannung aufbaut, wann und auf welche Weise Musik wirkungsverstärkend eingesetzt werden kann? – Alles das interessiert die Billigarbeitskräfte des Dödelfunks nicht. Weinende Hinterbliebene werden mit Ranfahrt und Zeitlupe bloßgestellt, darunter liegt eine süßliche Musik. Texte, die vor Adjektiven triefen und Nominalstil, der deutschen Schalterbeamten alle Ehre machte. Vom hochwertigen Beleuchten und geschliffenen Formulieren verstehen viele junge Reporter so viel wie eine Kuh vom Ballett.
Letztlich geht es beim kommerziellen Fernsehen ums Geldverdienen. Der Gewinn wird höher, wenn die Inhalte billiger und die Werbezeiten wegen gestiegenen Zuspruchs teurer werden. Das ist die Kunst, die Josef Andorfer, ehemaliger Senderchef von RTL2, in einem Interview mit dem stern im Jahr 2001 offenherzig erläuterte: „Eine Stunde Reality kostet 160.000 bis 200.000 Mark, eine Stunde Serie, z.B. Kommissar Rex, über eine Million. Stern: Die Neupositionierung Ihres Senders war also vor allem eine Geldfrage? Andorfer: Ich habe die Eigentümer zu Beginn meiner Amtszeit gefragt: Was soll RTL2? Die Antwort war: Geld verdienen. Ich musste sie nur überzeugen, dass ich den Weg kenne.“
Man zögert und zaudert und schielt panisch
auf die Erfolge der privaten Anbieter
Strukturell haben die privaten Kanäle das Konzept des Programms ersetzt durch das Konzept des flows. Alles fließt und geht ineinander über: Einheiten sind nicht mehr als inhaltliche und formale Blöcke voneinander getrennt. Die zusammengefügten Teile bilden eine große Sendung ohne Sinn. Mitten in der Hollywoodkomödie kracht ein Trailer für einen Actionfilm dazwischen, dann kommt Werbung für Autos, Datingportale und Haarentferner, dann noch ein Trailer für einen Thriller und schon geht’s weiter mit der Verwechslungskomödie – das ganze ohne visuelle Trenner, Übergänge oder Markierungen. Die Zuschauer sollen dranbleiben. Deshalb beschießt sie ihr Sender 24 Stunden am Tag im Wesentlichen mit dem Gleichen, dem ihnen Gebührenden.
Wenn das private Fernsehen mit Quiz Erfolge feiert, lassen ARD und ZDF ebenfalls Quizsendungen entwickeln, funktioniert im Privatfunk ein Boulevard-Magazin, ziehen die öffentlich-rechtlichen Sender nach, holen die RTL-Gruppe und ProSiebenSat1 mit Stand-up-Comedians beste Marktanteile, läuft irgendwann später etwas Ähnliches bei den Gebührensendern. Man kennt das und traut den verschlafenen Anstalten schon keine Neuerung mehr zu. Die letzte war vermutlich „Wetten, dass…“. Die Teletubbies waren nicht anspruchsvoller als Spongebob, Sturm der Liebe nicht hochwertiger als Gute Zeiten, schlechte Zeiten, Frag doch mal die Maus erscheint nicht kultivierter als Wer wird Millionär? Hier offenbart sich die ganze Problematik der öffentlich-rechtlichen Anstalten in Deutschland: Man hat kaum erfolgversprechende Ideen, man pflegt eine Kultur der Hasenfüßigkeit, man zögert und zaudert und schielt panisch auf die Erfolge der privaten Anbieter. Und das einzige, was den Granden in den Chefredaktionen, Programmdirektionen und Intendanzen dann einfällt, ist eine Kopierfabrik für kommerzielle Formate. Die Privatsender hingegen kümmern sich kaum um die Anstalten, sondern orientieren sich am Gegenprogramm der anderen privaten Kanäle und kopieren ebenso drauflos. So verwechselt der Zuschauer schon mal seine Kanäle und wähnt sich in einem audio-visuellen Ähnlichkeitswettbewerb. Die jeweilige Welle wird hemmungslos so lange gesurft, bis sie abgeflaut ist und das Publikum nicht mehr immer mehr vom immer Gleichen sehen will.
Bis heute versucht RTL, sich qualitativ von ARD und ZDF abzugrenzen. Die Unterhaltung soll offenbar deftiger, die Information oberflächlicher, die Fiktion actionreicher sein. Das würde dem Fernsehen als Kulturinstrument grundsätzlich kaum schaden – wenn die öffentlich-rechtlichen Sender sich nicht, wie beschrieben, an den Erfolgen von RTL orientierten und deren Ansprüche zunehmend adaptierten. Denn damit ziehen ARD und ZDF die Qualität der Berichterstattung und das kulturelle Niveau beständig weiter nach unten. Diese Entwicklung ist den Intendanten der Gebührensender anzulasten, der Ball liegt in ihrer Hälfte.
Der Nimbus von Bedeutung
und Unersetzlichkeit bröckelt
Die privaten Fernsehsender in Deutschland hatten nach ihrem Entstehen 1984 keine Schwierigkeiten, Publikum in deren Zielgruppe der 14- bis 49-Jährigen an sich zu binden. Entsprechend dramatisch entwickelten sich die Zuspruchsverluste von ARD und ZDF. Also widmeten sich die Gebührenanstalten der Frage, wie die Erosion zu stoppen sei. Darauf haben sie bis heute keine Antwort gefunden. Ihr Nimbus von Bedeutung und Unersetzlichkeit bröckelt seit Jahren.
Mit Anpassung haben die Gebührensender auf die Konkurrenz reagiert und ihre Informationssendungen extrem popularisiert. Sie tun so, als habe sich das Fernsehen seither vom Kulturgut zum Wirtschaftsgut gewandelt – aber eben nicht nur für die Kommerzsender, sondern auch für sie selbst. Im Informationsprogramm ist Qualität geknüpft an journalistische Recherche. Das Programm von ARD und ZDF sollte infolge der weltweit einmalig hohen Einnahmen aus der Haushaltsabgabe herausragend sein und sich folglich extrem unterscheiden von den im Durchschnitt niveaulosen Angeboten kommerzieller Sender. Dazu zählt selbstverständlich die längst fällige Abkehr von Werbung und Sponsoring. Es geht um inhaltliche Exzellenz – auf austauschbare Talksendungen, lebensferne Volksmusikabende, brave, sich anbiedernde Talkqueens und blutiges Action-Geballer sollten die Gebührensender unbedingt und schnellstens verzichten.
Nicht nur bei Angeboten für die Jugend, sondern auch bei den Shows sind die Anstalten zu dröge. Sie trauen sich offenbar nicht, internationale und dramaturgisch bestechende Formate wie The Voice of… zu kaufen. Wegen dieser Schere im Kopf und dem fehlenden Mut wirkt das deutsche Beitragsservice-TV so wenig avantgardistisch und überraschend wie die pomadigen Titel ihrer Shows: Frag doch mal die Maus, Klein gegen Groß und Das ist spitze! Die Sendungen liefern zuverlässig jene Betulichkeiten, die ihre Namen erwarten lassen.
Durch die Vervielfältigung des Senderangebots sind die einzelnen Sender und Sendungen entwertet worden. Parallel zu seiner Entautorisierung hat das öffentlich-rechtliche Fernsehen auch an Glaubwürdigkeit verloren. Neue Formate wurden ausprobiert, z.B. mit Boulevardmagazinen wie Brisant, mit Laborexperimenten wie „Windstärke 8 – Das Auswandererschiff 1855“ oder „Das Schwarzwaldhaus“. Living-History-Dokumentation nennen das die Innovativen der ARD, wobei „Das Schwarzwaldhaus“ von der BBC (The Nineteenth Century House) abgekupfert wurde. Die Informationssendungen sollten unterhaltsamer werden, zum Ärger vieler Medienkritiker, die einmal mehr die Selbstkommerzialisierung der Anstalten beklagten. Das Outfit der öffentlich-rechtlichen Magazine ist bunter geworden, und elektronische Tricks zur Bildbearbeitung werden häufiger eingesetzt. Gleichzeitig wurden Features, Dokumentarfilme, Dokumentationen und Kultursendungen in die dritten Programme und die Spartenprogramme verbannt, damit man in den Hauptprogrammen die privaten Wettbewerber hemmungslos mit massentauglichen Soaps und Shows und Stars niederquoten kann. Neo heißt beim ZDF der Kanal für die Ansprache der Junggebliebenen; die ARD will sich mit One dieser Zielgruppe nähern, und im Netz haben sich beide mit Funk zusammengetan, um auf ungewohnte Weise Teenager anzusprechen. „Fickt euch“ hieß dort beispielsweise ein Format, bei dem zwischen 2016 und 2017 „offen und tabulos“ Fragen über Sexualität beantwortet wurden, was für Jugendliche angesichts der im Internet verwirrend und oft zweifelhaft ausgestellten Sexualität und Pornografie ein wichtiges Angebot wäre.
Zur Unterscheidung von den Privatkanälen
zählen die längst fällige Abkehr von Werbung und Sponsoring
Die Misere von ARD und ZDF wird durch weitere Faktoren geprägt: Ihr Storytelling ist abgehängt. Mutlosigkeit, vorauseilender Gehorsam und Bunkermentalität bestimmen offenbar die Atmosphäre in den Fiction-Abteilungen der Gebührensender. Die Redakteure, Abteilungs- und Hauptabteilungsleiter wissen, dass sie eine ganze Zuschauergeneration, nämlich die heute 10- bis 25-Jährigen, schon verloren haben. Für die Jungen sind das Programmfernsehen und vor allem das Seniorenprogramm der Öffentlich-Rechtlichen perdu. Wenn sich neben der Fiction auch die Information ähnlich nach unten orientiert, verlieren die Anstalten weiter an Identität und Wert.
Der Spiegel hat sich 2017 des Programms von ARD und ZDF in einer Titelgeschichte blumig angenommen: „Vielleicht wirken ARD und ZDF auch deshalb so oft aus der Zeit gefallen, weil in ihrem Programm von den Rissen in diesem Land, von mancher Kluft, die sich auftut, so wenig zu spüren ist. Vor lauter aufgesetzter Quizshow-Heiterkeit, Klinikserien-Pseudodramatik und anderem gebührenfinanzierten Trallala. Manchmal hat man den Eindruck, ARD und ZDF machen ungefähr so Fernsehen, wie Angela Merkel regiert. Irgendwo zwischen ,Sie kennen uns’, ,In der Ruhe liegt die Kraft’ und kulturellem Wachkoma. Abends werden unentwegt Discounter getestet, und niemanden scheint zu kümmern, dass die angeblichen Dokumentationen fast Werbesendungen sind. Telenovelas wie ,Rote Rosen’ und ,Sturm der Liebe’ tropft der Kitsch schon aus dem Titel. Und immer wieder geht noch ein Krimi und geht noch ein Quiz und geht noch ein Krimi und geht noch ein Quiz.”
Die Verantwortlichen lassen keine Strategie erkennen,
dem Verlust an Qualität, Vertrauen und Interesse entgegenzuwirken
Ein Teil des Problems liegt in der Tatsache begründet, dass das deutsche Fernsehen zumeist nicht gut erzählen kann, nicht liebevoll, nicht künstlerisch, nicht mit literarischen Mitteln, nicht packend und nicht filmisch anspruchsvoll, wie Alexander Gorkow in der Süddeutschen Zeitung bestätigt: „US-Serien wie das hypnotisierende ‚House of Cards‘, die ‚Mad Men‘, selbst das harmlosere ‚Newsroom‘ stehen in einer literarischen Tradition – von Autoren wie John Updike oder Philip Roth. Es ist Unterhaltung im Sinne der Aufklärung. (Wer bei YouTube ‚The Newsroom, Opening Scene‘ eingibt und acht Minuten investiert, wird verstehen.) Das ist in der Herstellung jeweils das Ergebnis von mutigen Produzenten, und es ist im Ergebnis Autorenfernsehen.“
Die beständig sinkende Fernsehkultur des dualen Rundfunksystems schadet der Gesellschaft insgesamt. Das öffentlich-rechtliche Fernsehen sollte sich darüber klarwerden: Niemand braucht seine Showstars, seine braven Talkshow-Gastgeberinnen, seine Herz-Schmerz-Filme und seine Sportleute. Es wird vielmehr dokumentieren müssen, dass seine für die Gesellschaft relevanten Inhalte sonst nirgendwo erbracht werden und dass sich seine Angebote substanziell von denen des Wettbewerbs unterscheiden. Damit steht und fällt die Struktur unseres Dualen Rundfunksystems. Aber bislang lassen die Verantwortlichen in den Sendern keine Strategie erkennen, diesem Verlust an Qualität, Vertrauen und Interesse entgegenzuwirken. Gorkow resümiert mit Fatalismus: „Eines Tages wird man die Pensionäre fragen, was sie damals gemacht haben mit dem vielen Geld und den vielen tollen Künstlern. Die Pensionäre werden dann die Verantwortung übernehmen müssen für eine bleierne Zeit in Deutschland.“ Einstweilen wird bei ARD und ZDF zur Primetime weiter volkstümlich geschunkelt, gefolgt vom Verlesen der Lottozahlen – alles wie vor 50 Jahren.
Lesen Sie zum Thema auch den jetzt besonders aktuellen Blogbeitrag: https://dgfr.online/geliebte-verbloedung/.
Herzliche Grüße
Matthias Michael