Die Ansprüche an Führung steigen – aber viele Firmen pflegen noch Kommandostrukturen wie beim Militär und in der Medizin

Wer kündigt, verlässt seinen Chef. Natürlich verlässt er auch sein Unternehmen – aber allzu oft ist das Verhältnis zum direkten Vorgesetzten entscheidend für den Entschluss, endgültig zu gehen.

Der Mitarbeiter fühlte sich womöglich missverstanden, nicht wertgeschätzt, herabgewürdigt, nicht richtig positioniert und psychisch unter Druck gesetzt. Er hatte lange das Gefühl, seine Fähigkeiten, Stärken und Leidenschaften nicht einbringen zu können. Der entscheidende Grund für seine Kündigung lag also in der Führung durch den direkten Vorgesetzten.

Im Laufe meines beruflichen Lebens war ich bei einigen Firmen beschäftigt. Das Miteinander in den Betrieben studierte ich aus unterschiedlichen Perspektiven: Mal war ich Praktikant, mal Geschäftsführer. Mit den Jahren wurde mir eines klar – und diese Erkenntnis sollte mir vielfältige Impulse geben: Wir Menschen bleiben in einem wesentlichen Punkt das ganze Leben über gleich – wir brauchen Anerkennung; sie drückt sich aus in Lob und Zuneigung. Das ist schon als Kind so und ändert sich auch nicht, wenn Vernunft, Wissen und Normierung zunehmen.

Der Mensch als soziales Wesen genießt das Gefühl, einen Wert zu haben. Wer annimmt, für andere wichtig zu sein, der wird es auch. Mindestens für sich selbst.

Mitarbeiter stellen höchste Ansprüche an die Vorgesetzten

Beim Umgang mit meinen Kindern erfuhr ich, wie leistungsbereit und fähig sie waren, wenn sie eine freundliche, respektvolle und von Liebe geprägte Ansprache erlebten. Immer aber, wenn ein Sporttrainer meinen Sohn anschrie, warf der Junge den Bettel hin und sagte: „Der ist blöd. Zu dem gehe ich nicht mehr.“ Er reagierte also sensibel – vielleicht zu empfindlich – auf Aktionen, die er als persönliche Kränkungen empfand.

Ich sagte ihm dann, er solle nicht überreagieren und nicht alles persönlich nehmen; ein emotionaler Ausfall eines Trainers könne schon mal vorkommen in der Hitze der Auseinandersetzung. Das dokumentiere ja gerade dessen Engagement und Leidenschaft. Der Coach habe diese Sache sicher sofort vergessen und gar nicht so gemeint. Man müsse auch mal Verständnis zeigen für Leute, die nicht so sind wie man selbst…

Zwecklos. Nichts zu machen. Wer bei meinem Sohn einmal menschlich verspielt hatte, mit dem wollte er nichts mehr zu tun haben. Keine zweite Chance. So probierte mein Junge im Alter von sechs bis zehn Jahren mehrere Sportarten aus: Fußball, Hockey, Handball – jedes Mal ging er irgendwann nicht mehr hin, weil er von seinem jeweiligen Trainer menschlich enttäuscht war. Er war wohl der Meinung, ein Trainer müsse mit jedem seiner Spieler so respektvoll umgehen wie ein fürsorglicher Vater.

Manche meinen noch, Druck erzeuge Leistung

Mir wurde klar, dass mein Sohn – ebenso wie das Arbeitnehmer gegenüber ihren Vorgesetzten tun – die allerhöchsten Ansprüche an Erwachsene stellte. Auch an seine Lehrer in der Schule. Er ist nie ein Typ gewesen, der Begeisterung und Motivation heucheln konnte, wenn er einen Lehrer nicht mochte. Und ganz besonders abweisend und leistungsunwillig zeigte er sich bei jenen Lehrern, von denen er annehmen musste, dass sie ihn nicht persönlich schätzten.

Allgemein gilt: Wer im Berufsleben seelischen Druck von oben erfährt, der geht ängstlich und unsicher an Aufgaben. Wer sich überfordert fühlt, weil er von Lehrern oder Vorgesetzten regelmäßig negative Kritik, Vorhaltungen und sogar persönlich verletzende Bewertungen ertragen muss, wird entsprechend schwache Leistungen abliefern. Solche Menschen bleiben unter ihren Möglichkeiten.

Wenn sie lange unter diesem Stress stehen, erkranken sie an psychosomatischen Beschwerden. Das betrifft übrigens umgekehrt auch die Vorgesetzten und Lehrer. Wer permanent davon ausgeht, den Anforderungen seiner Mitarbeiter und Schüler nicht gerecht zu werden, leidet ebenso.

Führungskräfte wachsen an schwierigen Beschäftigten

Mancher Lehrer, so meine Erfahrung, macht die gleichen Fehler wie allzu viele Vorgesetzte in der Wirtschaft: Sie sehen nur die abgelieferte Leistung, nicht aber die mögliche. Sie versäumen es, ihre Eleven bzw. ihre Mitarbeiter zu besseren Ergebnissen zu bringen, die durchaus möglich wären, wenn die Leistungserbringer nicht nur extrinsisch angetrieben agierten, sondern von innen heraus motiviert und neugierig wären und deshalb besonders engagiert, mit Herzblut und Spaß an die Sache heran gingen. Jemand, der mit Freude seine Arbeit macht, erzielt bessere Resultate.

Als Vater wünscht man sich von den Lehrern der Kinder, dass sie sich bewusst machen, an schwierigen oder unangepassten oder anspruchsvollen Schülern selbst zu wachsen, so dass sie diese Kinder als positive Herausforderung begreifen können. Das gleiche erwartet man im Berufsleben als Berater und Förderer mitunter von seinen Coachees – verantwortungsvollen Führungskräften: Auch sie können ungewöhnlich herausfordernde Situationen leichter annehmen, wenn sie sich mit Neugier das Lernerlebnis für sie selbst vor Augen führen.

Viele Unternehmer, Manager und Führungskräfte in der Wirtschaft meinen aber noch immer, Druck erzeuge Leistung, die Menschen seien von Natur aus faul und egoistisch, man müsse sie beständig kontrollieren und ermahnen, freiwillig seien Spitzenleistungen nicht erzielbar. Devise: „Müller, seien Sie jetzt mal kreativ!“

Ich selbst habe etliche solcher Führungskräfte erlebt: Choleriker, Menschenfeinde, Profilneurotiker. Wer mit sich selbst nicht im Reinen ist, sollte nicht versuchen, andere Menschen zu führen.

Auch deshalb habe ich immer wieder den Arbeitgeber gewechselt. Nie hatte ich das Gefühl: Dies ist mein Unternehmen, hier fühle ich mich komplett wohl, hier will ich am liebsten für den Rest meines Berufslebens bleiben! Mangelnde Loyalität könnte man das nennen. Dabei hatte ich immer einen Trost: Erstaunlich vielen anderen Kolleginnen und Kollegen ging es genauso. Selten habe ich Angestellte kennen gelernt, die ihr Unternehmensglück gefunden hatten.

Der Grund für meine Zweifel, meine Kritik und meine innere Abwehr lag nie an den Arbeitsbedingungen, am Arbeitsmaterial, an den Inhalten oder an den Kollegen. Sondern ausschließlich und immer wieder an den unmittelbaren Vorgesetzten. An jenen Menschen also, die über mich als Leistungserbringer, als Mensch und als Kollege sowie über meine Erfolge und Ergebnisse befinden wollten. Denn entsprechen die Äußerungen und auch das Verhalten des Vorgesetzten nicht unseren moralischen Erwartungen, fühlen wir uns missverstanden, zurückgesetzt oder angegriffen.

Wer sich wohlfühlt, nimmt eine geringere Vergütung in Kauf

Dabei sind die Bewertungen vielleicht nur deshalb keine großartigen Würdigungen, weil der Vorgesetzte fälschlicherweise befürchtet, ein Lob zöge wie zwangsläufig ein Gehaltsgespräch nach sich. Auch das habe ich erlebt. Kein Tadel sei Lob genug, sagte einer. Sonst müsse er sich jede Woche mit Mitarbeitern über deren Gehalt auseinandersetzen.

Das Gegenteil ist richtig: Wer sich wohl fühlt an seinem Arbeitsplatz, weil er wertgeschätzt, gemocht und gelobt wird, nimmt eine geringere Vergütung in Kauf, auch wenn woanders mehr Geld lockt.

„Zuckerbrot und Peitsche“ nannte ein anderer seine Führungsdevise. Wieso Peitsche? Hatte dieser Mann, der immer großen Wert auf ein möglichst teures Auto legte, früher mal unter fehlender Zuneigung oder Vernachlässigung gelitten? Und meinte er nun, dieses Muster sei tatsächlich adäquat fürs Führen von Menschen?

„Am liebsten sind uns Menschen, die 60 und mehr Stunden arbeiten…“

Ein Finanz-Geschäftsführer sagte mir einmal: „Wenn jeder nur so lange arbeitet, wie er laut Vertrag verpflichtet ist, verdient unser Unternehmen kein Geld. Erträge bescheren uns nur diejenigen Beschäftigten, die mehr leisten, als sie vertraglich zugesichert haben. Wer 45 Stunden arbeitet, ist leicht profitabel. Wer 50 Stunden arbeitet, ist höher profitabel. Und am liebsten sind uns Menschen, die 60 und mehr Stunden arbeiten, weil sie unsere Wertschöpfung stärker steigern.“

Das ist das Denken nach den Postulaten des neoliberalen amerikanischen Wirtschaftswissenschaftlers Milton Friedman, der z.B. proklamierte: „The business of business is business“ – Unternehmen sollten Profite erwirtschaften, sonst nichts.

Dieses Credo gilt bei modernen Firmen längst nicht mehr. Denn die Arbeitsbedingungen, die Mitarbeitererwartungen und das Umfeld der Unternehmen haben sich durch die Globalisierung, die Digitalisierung und allerlei weitere Faktoren im 21. Jahrhundert grundlegend verändert. Organisationen müssen heute achtsamer mit ihren Beschäftigten, mit ihren Kunden, mit den Lieferanten und mit der Öffentlichkeit umgehen als je zuvor. Sie sollten Fürsorge leben und dokumentieren.

Die Ökonomie konsolidiert sich nach der Übereinstimmung mit Lebensentwürfen

Der Preis für ein Produkt oder eine Leistung allein reicht als Differenzierungs- und Erfolgskriterium im Markt nicht mehr aus. Die Wirtschaft wird sich konsolidieren nach Kriterien von Nachhaltigkeit, Aura und Identität. Das heißt: nach Übereinstimmung mit den Lebensentwürfen, mit den Ängsten und Hoffnungen der Menschen.

Organisationen, die Vertrauen und Identifikation stiften, werden erfolgreich sein. Entsprechend gewinnen immaterielle Unternehmenswerte wie Mitarbeiterzufriedenheit, Unternehmenskultur und Reputation enorm an Bedeutung.

Nach einigen beruflichen Wechseln fragte ich mich, warum ich mich in keinem Unternehmen richtig wohl und heimisch fühlte. War ich zu schwierig? Zu intolerant? Zu wenig anpassungsfähig? Zu gehemmt, mich in die Eigenheiten einer Firma einzufügen? Zu anspruchsvoll, was ein wertschätzendes, freundliches und positives Miteinander betrifft? Mit der Zeit und mit den Erfahrungen und nach Gesprächen mit Freunden und Kollegen ließen die Selbstzweifel nach. Denn ich stellte fest: Fast jedem ging es so wie mir.

Also beobachtete ich die Oberhäupter, auch meine eigenen Vorgesetzten. Zusammenfassen kann ich diese Erfahrungen so: Gute Vorgesetzte suchen sich gute Mitarbeiter. Und sie sagen ihnen auch, wie sehr sie ihre Leistungen schätzen, wie wertvoll ihre Arbeit ist und wie wichtig sie deshalb ganz persönlich für das Unternehmen sind. Die fachlich und menschlich Leistungsstarken sollten beständig individuell gefördert und so „loyalisiert“ werden. Damit agiert der Vorgesetzte wie ein Mentor, Coach und Trainer und weniger wie ein Kontrolleur, Disziplinarvorgesetzter und Kommandoführer.

Moral zu beweisen, fällt bei Sturm und Regen schwerer als bei Sonnenschein

Steve Jobs, der legendäre Gründer von Apple, hat das so ausgedrückt: „Es macht keinen Sinn, kluge Köpfe einzustellen und ihnen dann zu sagen, was sie zu tun haben. Wir stellen kluge Köpfe ein, damit sie uns sagen, was wir tun können.“

Was aber tun, wenn die Ergebnisse eines Beschäftigten einmal nicht so gut sind? Dann gilt weiterhin: Anerkennung für die Mühe zollen und dabei ehrlich sagen, dass man ein anderes Ergebnis erwartet hätte. Gleichzeitig Hilfe anbieten und gemeinsam besprechen, wie man zu besseren Resultaten kommen kann. Entscheidend ist dabei, dass sich die hierarchisch Untergebenen weiterhin fachlich geschätzt und persönlich gemocht fühlen, dass sie keine Angst um ihren Arbeitsplatz haben. Denn die Stelle sichert möglicherweise die wirtschaftliche Existenz des Mitarbeiters und seiner Familie.

Auch kritisches Feedback kann ein Zeichen von Anerkennung sein. Denn es zeigt: Mir ist an Dir gelegen. Ich sehe Dich und nehme Dich ernst. Gute Team wachsen gemeinsam durch den Austausch von Stärken und Schwächen. Sie tragen Konflikte aus, vergeuden weniger Energie damit, über andere zu reden und kooperieren besser.

Bei diesem Prozess der zeitgemäß-effektiven Führung sollten sich Unternehmen beraten und begleiten lassen. Denn mit dem Blick von außen auf die Organisation und mit methodensicheren und zum Betrieb passenden Wegen können kulturelle Veränderungen gelingen.

Wenn der wirtschaftliche Erfolg der gesamten Firma oder Abteilung ausbleibt, ist besonders viel Führung von den Vorgesetzten gefordert, beispielsweise durch eine noch intensivere Kommunikation mit der Mannschaft. Bei Sturm und Regen Moral zu beweisen, fällt schwerer als bei Sonnenschein. Hier trennt sich die Spreu der Vorgesetzten vom Weizen.

Die Wirtschaft strebt Nichtnullsummenspiele an

Das gleiche gilt für den Sport. Ein Team mit Charakter steht auch in schwierigen Zeiten zusammen und kämpft sich zu erneuten Erfolgen. Dazu braucht es aber neben einem Korpsgeist auch exzellente individuelle Fähigkeiten. Die Mannschaft wird nur gewinnen, wenn sie eine Kombination aus koordiniertem Gruppenauftreten und brillanten Einzelspielern bietet.

Im Übrigen führen Analogien zum Sport in der Arbeitswelt mitunter in die Irre. Im Sport geht es immer ums eigene Gewinnen. Man tritt an, um den „Gegner“ niederzuringen. Er soll als Verlierer vom Platz gehen. Spieltheoretiker sprechen von einem Nullsummenspiel: Der eine gewinnt, was der andere verliert.

Die Wirtschaft funktioniert anders. Hier erweisen sich jene Beziehungen als nachhaltig, die beiden Seiten Vorteile bringen. Win-Win-Erfolge im Sinne von Nichtnullsummenspielen werden angestrebt.

Allzu lang wehte durch deutsche Unternehmensflure und -Werkhallen ein Geist, der dröhnte: „Arbeit wird bezahlt, weil sie erledigt werden muss. Dienst ist Dienst, und Schnaps ist Schnaps! Wer hier schuftet, macht das nicht, weil er will, sondern weil er muss!“

In einer solchen Atmosphäre nutzen Vorgesetzte ihre Zeit und Energie dazu, ihre Pfründe zu sichern und auszubauen, ihre Abteilungen zu vergrößern und Etats aufzublasen. Solchen Hierarchen ist das Verhältnis zu ihren Mitarbeitern meist nicht sonderlich wichtig – Hauptsache, die „Untergebenen“ respektieren, dass sie die Leiter, die „Disziplinarvorgesetzten“ und die Respektpersonen sind. Ein Fehler.

Wo die Vorschriften blühen, wächst der Dienst nach Vorschrift

Leider dulden manche Unternehmen nach wie vor die heiligen Kommandostrukturen wie beim Militär oder in der Medizin. Wo ein Denken in Hierarchien zelebriert wird, wo Führungskräfte nicht mit ihren Mitarbeitern zum Essen gehen, wo Wissen gebunkert statt geteilt wird, wo schlecht informiert wird und jeder drei Kreuze macht und nichts mehr vom Betrieb wissen will, wenn er durchs Ausgangstor geht, da sinkt die Leistungsqualität.

Kurzum – wo die Vorschriften blühen, wächst auch der Dienst nach Vorschrift: Viele Arbeitnehmer haben schon seit Monaten oder Jahren innerlich gekündigt, ohne sich um eine neue Stelle bemüht zu haben. Sie machen nur noch, was verlangt wird – das Nötigste. Vielleicht leiden sie unter einer der schlimmsten Formen von Stress: psychischem Druck, ausgeübt von Vorgesetzten, die entscheiden, ob der Betroffene seinen Arbeitsplatz behält und wie viel Geld er für seine Leistung erhält.

Wenn der „Chef“ durchblicken lässt, dass er nicht zufrieden ist mit der Arbeitsleistung, wird sich der betreffende Untergebene Sorgen machen, Angst haben, verkrampfen und sich isoliert fühlen. Sofern sich dann auch noch Kollegen erkennbar abwenden, weil sie nicht mit einem Ausgestoßenen gesehen werden wollen, verstärkt sich das Verlorenheitsgefühl weiter.

Miese Stimmung kann sich schnell am gesamten Standort, in der Branche oder in der Öffentlichkeit herumsprechen. Wenn dann zusätzlich die Bewertungen in den sozialen Medien negativ auffallen, Gerüchte entstehen, gute Leute kündigen, die Zahl und die Qualität der Bewerber zurückgehen, dann sinkt die Reputation des Unternehmens und eine Spirale nach unten dreht an.

Wer Hierarchien abbauen will, sollte ihre Symbole beseitigen

Immerhin hinterfragen viele Manager und Unternehmer ihre Führungskulturen. Die alten Zeiten des reinen Top-down-Managements, der Anstellung fürs Leben, des Aufstiegs über Jahrzehnte in ein und derselben Firma und der Einmal-Chef-immer-Chef-Attitüde – endgültig perdu. Die Ökonomie spiegelt die Gesellschaft, sie wird ebenso schnelllebig und fluide. Wer Hierarchien abbauen will, muss auch deren Symbole beseitigen: Statusdinge, Bevorzugungen, Kommunikationsprivilegien. Diese Erkenntnis spricht sich herum. Allein die Umsetzung des neuen, erwünschten und förderlichen Miteinanders fällt manchem schwer.

Jeder kennt die aktuellen und sich verschärfenden Schwierigkeiten des Standortes Deutschland. Die demografische Entwicklung ist eindeutig: Hierzulande kommen erheblich weniger Kinder zur Welt als früher. Die starken Jahrgänge der in den 1960er Jahren geborenen Babyboomer gehen in den nächsten 10 bis 15 Jahren in Rente, was nachkommt, ist zahlenmäßig kaum vergleichbar.

1964 wurden mehr als 1,4 Millionen Babys in Deutschland geboren, 2016 waren es 792.000. Und ab 2020 sinkt die Zahl der Frauen im Alter von 26 bis 35 Jahren weiter ab, so dass sich das Problem der verringerten Geburtenzahl weiter verschärfen wird.

Als Folge gehen der Wirtschaft die qualifizierten Nachwuchskräfte verloren. Es mangelt schon heute in vielen Branchen an talentierten und motivierten jungen Leuten, sei es im Handel, im Handwerk, in der Pflege, der Logistik, der Landwirtschaft oder in der Industrie.

Also müssen Unternehmen und Organisationen aller Art etwas Essenzielles bieten, um sich zu unterscheiden vom Wettbewerb und um die besseren jungen Leute für sich zu gewinnen: ein angenehmes Umfeld, in dem man gern arbeitet.

Innovationsmeister wie Google, Apple und 3M haben das erkannt. Sie bieten bunte Sozialräume mit Tischkicker, Getränke und Obst in modernen Teeküchen und Lounges, Sport- und Fitnessmöglichkeiten, Massagen, Kreativworkshops und Projektzeit, in der man eigenen Neigungen nachgehen kann (die freilich dem Unternehmen zugutekommen sollten). Alles bezahlt, alles kostenfrei für jeden Mitarbeiter.

Ob damit indes der Leistungs- und Zahlendruck dieser Unternehmen auf die Beschäftigten gemildert wird, bleibt unklar.

Gerade in der Welt der digitalen Wirtschaft gilt das Credo: Umarme das Abenteuer!

Der Kicker ist nicht entscheidend. Viel wichtiger: das Miteinander. Wenn die Beschäftigten gern zur Arbeit kommen und das Gefühl haben, sich mit ihren Interessen und Fähigkeiten gewinnend einbringen zu können und dafür geschätzt zu werden, wird das Unternehmen immer gute Bewerber und Einsteiger finden, die geschäftsschädigende Personalfluktuation bleibt gering.

Der Vorgesetzte und das Unternehmen sind hier sichere Basisstationen für die Beschäftigten – Unternehmens-Coaches und -Psychologen sprechen vom Modell des Secure Base Leadership.

Dafür müssen alle Beteiligten etwas leisten. Wichtig sind eine offene Kommunikation, das Eingeständnis von Fehlern, eine entsprechende Toleranz im Umgang mit Mängeln und persönlichen Schwächen, ein wechselseitiges Wertschätzen, eine Kultur des Lobens und Motivierens, ein Gefühl des warmen Aufgehobenseins – ähnlich wie in der eigenen Familie.

Die sichere Basis kann vieles sein: eine Person, eine Organisation, ein Ort, ein Ziel oder eine Idee. All dies kann Schutz und Fürsorge bieten. Gleichzeitig sprudelt diese Basis wie eine Quelle für Inspiration, Energie, Risikobereitschaft und Selbsterfahrung. Sie fordert auf: Umarme das Abenteuer!

Unternehmen können eine Dehumanisierung der Arbeitswelt vermeiden

Denn alle Menschen brauchen Sicherheit und Vertrauen, auch am Arbeitsplatz. Auf diese Weise erfüllt eine Firma also ein menschliches Bedürfnis für ihre Beschäftigten. Das ist heute wichtiger denn je. Denn wir leben in der VUKA-Welt; das Akronym steht für: Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität. Unternehmen können eine weitere Dehumanisierung der Arbeitswelt vermeiden, sogar als Gegenpol dieser Entwicklung wirken.

Das ist für viele Manager und Führungskräfte noch immer ein seltsamer Ansatz. Sie meinen, ein ordentliches Gehalt und ein sicherer Arbeitsplatz sollten Motivation genug sein. – Mitnichten!

Ohne die menschliche Komponente zünden wir nicht. Das alte Modell, Einsatz durch Druck zu erzwingen, ist obsolet angesichts der veränderten Marktsituation, der anderen Wertvorstellungen der so genannten Generation Y (der in den 1980er und 1990er Jahren Geborenen) und Generation Z (der Millennials, die zwischen 1995 und 2010 zur Welt gekommenen sind) sowie der neuen Verbraucherbedürfnisse und der grundlegenden Änderungen des Wirtschaftslebens infolge der Digitalisierung.

Hohe Erwartungen an seine Mitarbeiter kann nur derjenige stellen, der auch eine extreme Fürsorge bietet. Anspruch bedingt Zuspruch.

Herzlich, Ihr

Prof. Dr. Matthias Michael, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Reputationsmanagement

PS An dieser Stelle können Sie demnächst den zweiten Teil über moderne Menschenführung lesen.