Die deutsche Wirtschaft setzt sich intensiv mit den Folgen und Herausforderungen der Digitalisierung auseinander. Manche Branchen sind weiter, andere hängen nach – besonders bei den Transformationen im Reputationsmanagement

Viele Unternehmen beschäftigen sich gegenwärtig mit zwei Zukunftsfragen: Wie meistern wir die Veränderungen im Zuge der Digitalisierung der Ökonomie? Und wie wahren wir dabei unser allgemeines Ansehen?

Die erste Frage ist komplex und branchen- und unternehmensabhängig. Hier muss jede Firma eine eigene Strategie für die Veränderung bzw. Anpassung ihres Geschäftsmodells entwickeln. Aber die zweite Frage lässt sich beantworten. In den 1960er und 1970er Jahren, in den Zeiten von Palmolive-Tilly und Ariel-Klementine, von Herrn Kaiser von der Hamburg-Mannheimer und dem reitenden Marlboro-Mann, hätte die Antwort gewiss mehrheitlich geheißen: Lasst uns eine Marketing-Offensive starten, eine große Werbekampagne mit vielen Anzeigen in Zeitungen, Plakaten an Litfaßsäulen und 30-Sekunden-Spots, die im Fernsehen laufen.

So einfach ist das in der Ära der Digitalisierung nicht mehr. Denn Werbung lügt, sie darf das und hat es immer getan. Aber heute istdas den Bürgern bewußter. Wenn eine Organisation in ihrem gekauften medialen Raum etwas behauptet, wird darüber in den Online-Medien diskutiert. Häufig werden Werbelügen entlarvt oder als Green Washing oder Social Washing gebrandmarkt. Die politisierte Öffentlichkeit in Deutschland reagiert empfindlich bis ablehnend auf Werbebotschaften, die nicht eingehalten werden. Wer platte Produkt- oder Markenwerbung betreibt – wie das beispielsweise die deutschen Automobilhersteller noch immer auf eine phantasielose Weise tun –, der macht das, um sein gutes Image zu pflegen und den Menschen immer wieder die eigenen Neuigkeiten vorzuführen, damit sie weiterhin von der Innovationskraft, der Qualität und der Aura der Marken und Produkte überzeugt sind.

Aber insgesamt wirken Anzeigen bei den Menschen nicht mehr so glaubwürdig und überzeugend wie in der Zeit vor der Digitalisierung. Welche Alternativen kommen in Betracht? Wie sollten Unternehmen stattdessen kommunizieren? Wie können sie das Ansehen ihrer Marken und Produkte heute wirkungsstark pflegen? Vor allem der Mittelstand unterschätzt die Umbrüche – und hier besonders in den Bereichen Reputationsmanagement, Kommunikation und Unternehmenskultur bzw. Gute Unternehmensführung (Corporate Governance). Die Kulturen der Organisationen in Deutschland werden sich in den nächsten 20 Jahren massiv verändern. Sie müssen sich den Bedürfnissen der nächsten Generationen anpassen, mehr Freiheiten bieten, neue fluide Formen des Zusammenarbeitens ausprobieren. Bei Anwendung von Design Thinking, Hybrid Thinking, Scrum und anderen neuen Kooperationsmethoden werden große Teile des mittleren Managements nicht mehr benötigt. Dieser Prozess wird die Wirtschaft grundlegend verändern.

Wir erleben einen ikonographischen Wandel: Die bewegten Bilder verdrängen die Schrift als zentrales Instrument zur Vermittlung von Kultur. Das bedeutet für die Wirtschaft: Sie sollte das Audio-Visuelle in den Mittelpunkt ihrer Kommunikation rücken, den Umgang damit proben – und sie wird auch lernen, kurze Geschichten mit Witz und (Selbst)Ironie und Übertreibungen zu erzählen. Geschichten über menschliche Werte. Denn nur sie berühren uns.

Aristoteles‘ Grundsätze für die Beeinflussung von Menschen – nämlich durch Ethos, Logos und Pathos – gelten auch in der Zeit der Digitalisierung. Sie müssen nur richtig gedeutet und genutzt werden. Wie transferieren wir die aristotelischen Erkenntnisse in die Ära der Digitalisierung? Immerhin können wir annehmen, dass sich die Menschen weiterhin für nichts mehr interessieren als für andere Menschen. Was bedeutet das für die Wirtschaft?

Diese Fragen lassen sich beantworten: Die Ära der Analyse und der Deskription wird abgelöst von der Ära der Story, des Entertainments und der Evaluation. Die Erfolge von Alphabet/Google, Facebook, Alibaba, Amazon, Ebay, Uber, AirBnB liegen nicht in der Herstellung von Produkten, sondern in der Verbindung von Menschen oder der Verbindung von Menschen (mit bestimmten Wünschen) und Produktherstellern bzw. Dienstleistern, die diese Wünsche erfüllen können.

Deutschland lebt hinsichtlich der Veränderungen in Richtung Plattformökonomie noch in der Steinzeit. Es ist die originäre Stärke des deutschen Mittelstandes, Produkte herstellen zu wollen und dies vielfach exzellent zu tun. Wie könnte sich die Wirtschaft entwickeln, um auch den Entwicklungen der Plattformökonomie Rechnung zu tragen? Wird die Jugend dafür entsprechend ausgebildet? Ist unsere Erziehung zeitgemäß? Nutzt der Bildungskanon, der in den Schulen gelehrt wird, der Entwicklung des Standortes Deutschland? Lernen die Schüler nach den richtigen Methoden die sinnvollen Kenntnisse? Sollten sie überhaupt wirtschaftsorientiert lernen? Welche Erlebnisse und Erfahrungen würden der gesellschaftlichen Entwicklung nutzen?

All die genannten Veränderungen gehörend zwingend zum verpflichtenden Themen-, Risiko- und Krisenmanagement jeder Organisation. Wenige Branchen und Unternehmen sind dahingehend für die Zukunft geschützt und erkennen, dass ihre Existenz vom öffentlichen Ansehen abhängt und haben dementsprechend investiert. Inwiefern sollte sich die Wirtschaft orientieren am Krisenmanagement von Tourismusunternehmen, von Airlines, von manchen Nahrungsmittelherstellern und Kliniken? Und was kann die deutsche Wirtschaft von positiv beleumundeten Unternehmen wie dm, Alnatura, Hipp und in Teilen auch Tesla und Amazon lernen? Wie verhält sich die deutsche Automobilindustrie nach dem Diesel-Abgas-Skandal? Welches Verhalten wäre sinnvoll im Sinne eines nachhaltigen Reputationsmanagements?

Solche Fragen müssen individuell und grundlegend diskutiert werden. Jedes Unternehmen benötigt einen Chief Reputation Officer (CRO), der die Reputation, die Symbolik, die integrierte Kommunikation und das Ansehen der Marken, Produkte, Dienste, Menschen sowie der Kultur des Unternehmens verantwortet. Dieser CRO sollte Mitglied des Vorstands bzw. der Geschäftsführung sein. Leider unterschätzen deutsche Unternehmen bisweilen die zu schützenden immateriellen Werte und die Möglichkeiten, diesen Schutz zu organisieren.

Herzlich, Ihr

Matthias Michael, Präsident der DGfR