Texte verlieren ihre Zentralfunktion bei der Vermittlung von Kultur – das neue Bildersuperleitmedium prägt das Miteinander weltweit

In den 1960er Jahren hat der Philosoph Jürgen Habermas in seiner Dissertation einen „#Strukturwandel der #Öffentlichkeit“ diagnostiziert. Auslöser der tiefgreifenden Veränderungen in der #Kommunikation der Menschen war die millionenfache Verbreitung von Fernsehgeräten in den deutschen Haushalten. Spätestens seit Anfang des 21. Jahrhunderts erlebt die Gesellschaft einen neuen Strukturwandel der Öffentlichkeit, den die Amerikaner „iconic turn“ nennen. Was macht diesen ikonografischen Wandel aus?

1. Internet und Fernsehen konvergieren
Das #Internet und das #Fernsehen verschmelzen zum neuen Super-Leitmedium. Alle anderen Medien werden zunehmend über das Always-On-Bewegtbildmedium rezipiert. Die Menschen lesen #Zeitungen im Internet und hören dort auch #Radio und sehen fern. Hinzu kommen #Streamingdienste. Soziale Medien und Abermillionen Websites, #Plattformen und Verkaufsstände im Netz suchen die Beachtung der Nutzenden und traktieren sie mit Botschaften, die oft kommerzieller Art sind.

2. Vorschlag für das neue Superleitmedium: Telepräsenz
Das neue #Medium hat noch keinen Namen. Es könnte #Telepräsenz – TP – genannt werden. Denn seine flexiblen, robusten und wasserdichten Screens werden überall sein: in Litfaßsäulen, um Hausecken, in Türen und Kotflügeln von Autos, in Leitwerken von Flugzeugen, in Toiletten überall können Menschen aus runden und gewölbten Bildschirmen mit bewegten Bildern traktiert werden. Zudem tragen die meisten Erwachsenen in den Industrieländern einen kleinen Computer mit #Display bzw. #Bildschirm in der Hosentasche mit sich herum. Sobald sie ihn beachten, versucht er, sie audio-visuell zu reizen, ihnen #Nachrichten und Informationen zu liefern, Produkte anzubieten und #Geschichten zu erzählen, vorzugsweise in stimulierenden Bildern.

3. Kultur wird zunehmend vermittelt in bewegten Bildern
Die abstrakten Textzeichen verlieren ihre Zentralstellung bei der Vermittlung von #Kultur. Eine #Webseite nur mit Text und Fotos ist wie ein Zoo, der nur Texte und Fotos zu bieten hat: langweilig, zum schnellen Sterben verurteilt. Die Menschen gehen wegen der Tiere in den Zoo, wegen ihrer Ästhetik, wegen ihrer Überraschungen und Aktivitäten, wegen ihrer Andersartigkeit, die die Besucher sichtbar und hörbar und bewegend erleben wollen. Ebenso ist das im Netz: Die Bürger – und hier vor allem die jungen – suchen #Unterhaltung und #Erkenntnis zunehmend stärker bei #Videos als bei Texten.

4. Die neue Kommunikation funktioniert ähnlich wie im Mittelalter
Kommunikationsphilosophisch betrachtet, bewegt sich der Mensch zurück in die Vor-Gutenberg-Zeit. Denn auch im #Mittelalter versammelten sich die Menschen auf den Marktplätzen und hörten und sahen die Magier, die Bänkelsänger, die Wahrsagerinnen, die Händler, die Gaukler, die Musikanten, die Wunderheiler und die Geschichtenerzähler. Dann gingen die Besucher nach Hause und berichteten ihren Familien und Freunden, was sie erlebt hatten. Wie heute im Netz, wo viele Menschen #Stories, Artefakte und dramatische oder lustige Videos finden und sie an ihr privates Umfeld weiterreichen. Der Unterschied zum #Mittelalter: Heute sind die Geschichten #audio-visuell. Das kann man bedauern, aber nicht verhindern. Denn das Wesen, das sich selbst als ein denkendes versteht, mag Reize bequem und am liebsten für seinen stärksten Sinn zubereitet: den #Sehsinn. Menschen sind #Augentiere, sie glauben, was sie sehen und meinen dann, es tatsächlich erlebt zu haben. Aber Bilder lügen – heute viel stärker noch als früher. Nur: Die meisten Menschen kennen die technischen Tricks nicht, mit denen Filmemacher, Grafikerinnen und #Journalisten sowie Agenturen, Unternehmen, Trolle, Geheimdienste, Diktatoren und Militärs Bilder manipulieren. Darin liegt eine Gefahr für die Entwicklung der #Zivilisation. Inzwischen können Computerprogramme nicht nur die Gesichter von Politikern so animieren, als sagten sie bestimmte Sätze. Vielmehr bauen sie aus der Stimme und der Diktion einer Staatschefin oder eines Premierministers eigene Sätze und Reden, die so niemals gesagt worden sind und sich täuschend echt anhören. Solche Deep Fakes sind gefährlich, weil sie im Extremfall beispielsweise einen Krieg heraufbeschwören könnten, der auf dem Irrglauben einer Konfliktseite beruht, die auf einen #Bildbetrug einer interessierten dritten Stelle hereinfällt. Auch könnten sie #Wahlausgänge beeinträchtigen, wenn sie falsche Behauptungen plausibel und glaubwürdig erscheinen lassen.

5. Die Zunahme der Screens bedingt einen Bedarf an Geschichten
Wenn die Menschen durch viel mehr Screens beeinflusst werden, gewinnen die audio-visuellen Inhalte an Bedeutung. Wer in der Zeit der #Aufmerksamkeitsökonomie wahrgenommen werden will, ist gezwungen, eine besondere Geschichte zu erzählen. Denn Geschichten mit ihrer eingängigen Dramaturgie werden immer gern genossen und weitererzählt. Die erfolgreichsten Organisationen werden es verstehen, Menschen durch eine beeindruckende #Narration für sich einzunehmen. Und zwar vor allem in leicht konsumierbaren und effektvollen Bildern.

6. Was ist eine Information? Und was ist eine Nachricht?
Die Zunahme der audio-visuellen Beschallung der Menschen bewirkt eine Zunahme positiver und negativer Wirkungen. Positiv: Menschen können sich überall und jederzeit informieren. Negativ: Sie werden belästigt mit belanglosen und werbegetriebenen Inhalten, also mit Informationsmüll, der einer audio-visuellen Umweltverschmutzung gleichkommt. Gefährlich für die #Demokratie kann das werden, weil viele #Mediennutzer schon heute nicht mehr unterscheiden können zwischen #Nachrichten und #Informationen, und zwar deshalb, weil sie täglich mit Tausenden – meist nutzlosen und werblichen – Informationen konfrontiert werden. Als Folge verlieren sie die Orientierung und die Sicherheit darin, was sie glauben können und sollten.

7. Im Dauerfeuer audio-visueller Berieselung stirbt die Zeit zum Nachdenken
Was bedeutet es, wenn die Gesellschaft überall mit audio-visuellen Reizen konfrontiert wird? Die Menschen sind abgelenkt, sie kommen weniger zum Nachdenken, weil sie keine Langeweile mehr erleben. Die #Kreativität wird dadurch eher blockiert als gefördert. Denn audio-visuelle Informationen zeigen und sagen meist schon, was der Zuschauer denken soll. Sie eignen sich weniger gut dazu, Menschen zum Nachdenken anzuregen – zumal die Reize auf dem Screen ja weiterlaufen und schon wieder die volle #Aufmerksamkeit der #Zuschauer binden möchten.

8. Daddeln ist nicht Kommunikation
Schon heute ist erkennbar, dass Menschen stundenlang nebeneinandersitzen – z.B. im Zug, im Flugzeug oder im Wartezimmer eines Arztes oder Krankenhauses –, ohne sich auch nur zwei Sätze zu unterhalten. Das war anders, bevor jeder seinen persönlichen Screen dabei bzw. vor den Augen hatte. Vielleicht gab es früher mehr personenbezogene Ansprache, mehr Gespräch, mehr Diskussion, mehr Freundlichkeit – und deshalb letztlich mehr #Menschlichkeit.

9. Die Fähigkeit zum aktiven Zuhören verkümmert
Durch die Fixierung auf die #Bildschirme und #Displays könnte auch die Fähigkeit der Menschen zum aktiven #Zuhören abnehmen. Vielleicht sind wir Heutigen weniger in der Lage, uns über mehrere Stunden lang mit einem Gegenüber intensiv auseinanderzusetzen, weil unsere #Aufmerksamkeitsspanne orientiert ist an der Taktung der sozialen Medien, des Fernsehens und der YouTube-Videos.

10. Die Wahrscheinlichkeit von Manipulationen steigt
Wenn das Audio-Visuelle bzw. das Digitale mehr Lebenszeit der Bürger in Anspruch nimmt, dann steigt die Gefahr von Manipulationen im gleichen Maße. Denn bewegte digitalisierte Bilder können nach Belieben optisch und akustisch manipuliert werden, um erwünschte Wirkungen zu erzielen. Dazu zählen Bearbeitungsmöglichkeiten, die die Zuschauer nicht wahrnehmen – schon allein deshalb, weil sie das audio-visuell präsentierte Material nicht mit dem wahrhaftigen Geschehen vergleichen können. Auch darin liegt eine Gefahr, nicht nur, weil #Falschmeldungen unerkannt bleiben, sondern auch, weil jene Interessensgruppen, die bewegte Bilder in großen Mengen als #Kommunikationsform nutzen, einen wachsenden Einfluss auf die Themen, die Inhalte und die Tendenzen der öffentlichen Kommunikation erhalten. Wer die Bilder hat, hat die Macht.

Herzliche Grüße

Matthias Michael, Geschäftsführer der DGfR