Die gefährliche und atavistische Vollgasmentalität auf Deutschlands Autobahnen spottete zu lange jeder Ratio – ein Tempolimit ist unabwendbar

In diesen Wochen sorgt man sich um die anfällige Reputation des Bundesverkehrsministers. Denn um ihn herum grassiert die Vernunft. Deutschland ist das einzige Land auf dem Kontinent noch ohne ein Tempolimit auf Autobahnen. Das Umweltministerium, die Polizeigewerkschaften, die SPD, die Grünen und diverse Umweltorganisationen befürworten die sofortige Einführung einer Geschwindigkeitsbegrenzung auf 120, 130 oder 140 Stundenkilometer – nicht gleich 90 km/h wie in Norwegen. „Ich bin für ein Tempolimit – es verringert Unfälle und spart jährlich bis zu zwei Millionen Tonnen CO2“, twitterte Umweltministerin Svenja Schulze am 24. Januar.

Anfang dieser Woche meldete auch noch der Deutsche Verkehrssicherheitsrat (DVR) sein Votum für ein Tempolimit von 130 Kilometern pro Stunde. Der DVR vertritt als Dachverband mehr als 200 Mitgliedsorganisationen, dazu zählen die Verkehrsministerien von Bund und Ländern, die Unfallversicherungsträger, Verkehrsverbände, der TÜV-Verband, Gewerkschaften, Kirchen und Wirtschaftsverbände, darunter auch der Verband der Automobilwirtschaft.

Wie der Name sagt, geht es beim DVR in erster Linie um die Sicherheit. Er argumentiert: Unfälle infolge von hohen Geschwindigkeitsunterschieden können mit dem Tempolimit verhindert werden, Fahrer können bei Gefahren besser und wirksamer reagieren, Unfälle gehen glimpflicher aus, der Verkehr fließt besser. Der DVR hat in sechs Vorstandsausschüssen mit je 30 Mitgliedern eineinhalb Jahre lang alle verfügbaren Fakten und Studien aus dem In- und Ausland zusammengetragen und ausgewertet. Alle Ausschüsse haben sich am Ende mehrheitlich für ein Tempolimit ausgesprochen, sagte der DVR-Präsident Prof. Dr. Walter Eichendorf der FAZ.

Die Zahl der Unfälle und Verletzten sank
nach der Einführung des Tempolimits um die Hälfte

Wenn Deutschland also mitmachte und überall 130 das zivile Limit wäre, würde es kaum sinnvoll sein, Fahrmaschinen zuzulassen, die viel schneller hobeln können. Statt an Hochgeschwindigkeitsgeräten zu basteln, könnten die Hersteller sich darauf konzentrieren, saubere, variable und energieeffiziente Fahrzeuge und Beförderungssysteme zu konstruieren.

Die Zahl der unfallbedingten Todesopfer ist auf Strecken mit Geschwindigkeitsbeschränkung deutlich geringer als ohne (2016: 110 versus 283). Nachdem 2003 auf der A24 in Brandenburg auf einem 63 Kilometer langen Teilstück ein Limit von 130 km/h eingeführt wurde, sank dort die Zahl der Unfälle und Verletzten um die Hälfte. Über die tödliche Wirkung von Abgasen wird längst nicht mehr gestritten: Einer Untersuchung der Environmental Health Analytics zufolge sterben jährlich 107.000 Menschen weltweit an Stickoxyden allein durch Abgase von Dieselfahrzeugen. Millionen Menschen müssen die Abgase einatmen – sogar Tag und Nacht, wenn sie in einer Großstadt leben. Die Menschen bezahlen mit ihrer Gesundheit. Bei einem Tempolimit von 120 km/h auf Autobahnen gehen Umweltverbände sogar von einer Einsparung von drei Millionen Tonnen Kohlendioxid aus.

Die grenzenlose Freiheit spüren – mit 220 Sachen
ganz links auf der Rennpiste für Rücksichtslose

Immer wieder gibt es Umfragen zum Tempolimit, nach denen eine knappe Mehrheit der Bürger in Deutschland dafür ist. Aber der Bundestag hat 2019 seiner verkehrspolitischen Verirrung nochmals Ausdruck verliehen mit dem mehrheitlichen Votum gegen das Limit. Es bleibt vorerst beim Geschwindigkeits-Größenwahn, beim aggressiven Brunftgehabe und der Brutalisierung durch toxische Möchtegernmännlichkeit auf der Autobahn.

Der Verband der Automobilindustrie, VDA, plädiert gegen das Limit und stattdessen für einen besseren Verkehrsfluss. Weniger Staus bedeuten selbstredend weniger Treibhausgasemissionen. Bei genauerer Betrachtung könnte man auch zu dem Ergebnis gelangen, dass beides sinnvoll ist und man das eine tun und das andere nicht lassen sollte.

Seit 30 Jahren hat eine atavistische Allianz aus ADAC, Automobilherstellern und Premiumklasse-Bundesverkehrsministern – roten und schwarzen namens Zimmermann, Krause, Wissmann, Müntefering, Klimmt, Bodewig, Stolpe, Tiefensee, Ramsauer, Dobrindt und der aktuelle: Andreas Scheuer – einen umweltschonenden, souveränen, unfallverhindernden und psychisch entlastenden Verkehrsfluss, wie er sonst in zivilisierten Ländern üblich ist, halsstarrig verhindert.

Eine Straße missverstehen sie als Zone
zum Ausleben ihres Naturrechts auf Geschwindigkeitsrausch

Die Ratio ist in der Politik offenbar nachrangig, wenn es um das Seelenheil von Menschen bzw. Wählern geht, die sich einbilden, nur noch ab Tempo 200 auf der Rennpiste für Rücksichtslose eine grenzenlose Freiheit spüren zu können. Rasen halten sie für gesellschaftsfähig. Eine Straße missverstehen sie als Zone zum Ausleben ihres Naturrechts auf Geschwindigkeitsrausch. Ihre Losung: Nur Loser rollen rechts.

Diese Bundesverkehrsminister argumentierten eklektisch: Es war schon immer so, und es bleibt auch so! Damit machten sich zum Büttel der von hinten drängelnden Lichthupen-Egomanen, an denen Entwicklungsschritte von Zivilität, Rücksichtnahme und Gemeinwohlorientierung offenbar vorbeigegangen sind.

Manch wohlhabender Businessmann kam aus Fernost
zum Hochgeschwindigkeitstest auf öffentlichen Straßen

Die Autohersteller konnten ihren Kunden im Ausland berichten, dass man auf den deutschen Highways Spaß am Vollgasfahren habe – zu Lasten der Anwohner, der Umwelt, der Einsatzkräfte. Manch wohlhabender Businessmann kam aus Fernost zum Hochgeschwindigkeitstest auf öffentlichen Straßen, z.B. auf die A 95, ein nicht ans sonstige Autobahnnetz angeschlossenes Teilstück zwischen dem Mittleren Ring in München und Eschenlohe, einem Dorf 15 Kilometer vor Garmisch-Partenkirchen. Hier wird dem Vollgas-Raubtier Auslauf gegeben. Rausch und Protz gehen eine heilige Verbindung ein. Wer einen Geschwindigkeits-High erleben will, kommt mit möglichst vielen Pferdchen unter der dröhnenden Haube.

Auf dem nur 68 Kilometer langen Abschnitt crashten in den vergangenen Jahren Hunderte Autos. Noch ruhig und zivil brummen die erwartungsfrohen Hellraiser mit ihren übermotorisierten Spritschleudern über Stadtstraßen bis zum Luise-Kisselbach-Platz. Dann 60 km/h vierspurig stadtauswärts gen Süden, dann 80, wenige Kilometer, dann Schuss frei. Durchtreten, den Bergen entgegen. Mit Warpgeschwindigkeit. Zum Ausflippen. Schnell sind Rivalen gefunden, auch sie sausen und zürnen lichthupend entlang der Leitplanke links. 220, 250 und mehr. Und manche heben abrupt ab auf dem Weg nach Garmisch, bohren das Geschoss frontal in eine Wiese, überschlagen sich krachend auf einem Acker, schleudern auf feuchter Bahn dumpf in andere Autos hinein, crashen in die Aluminiumbegrenzung und zurück auf die Rennstrecke. Dampfender Schrott und Reste menschlicher Körper bleiben liegen wie nach einem Granatenangriff.

Die zerstörten Städte wurden nach dem Krieg
nach amerikanischem Vorbild geplant: autogerecht

Bilanz laut Süddeutscher Zeitung für die Jahre 2010-2019 nur auf dem kurzen A95-Stück: 1.678 Unfälle, bei denen die Fahrer zu schnell waren, 13 Tote, 468 Verletzte, 23,3 Millionen Euro Schaden. Blutzoll auf dem Rennkampfplatz für das Missverständnis einer kleinen dumpfen Freiheit. Und frustriert-verstörte Einsatzkräfte müssen nachts und feiertags raus, wenn mal wieder ein Möchtegern-Hamilton Bodenkontakt verloren hat und unsanft gelandet ist.

Für manch einen im Land von Carl Benz und Rudolf Diesel zählte das Heizen mit dem Boliden entlang der linken Fahrbahnbegrenzung für Dekaden zum Glaubensbekenntnis und irgendwie zum nationalen Selbstverständnis dazu. Die vier-, sechs- und manchmal achtspurigen Schneisen durch die deutsche Kulturlandschaft waren für sie eine Errungenschaft des Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg. Deutschland sollte damals ein autogerechtes Land werden. Die zerstörten Städte ließen sich gleich so planen, dass der Autofahrer möglichst schnell in die City kamen und einen Parkplatz finden konnten – alles wurde freigeräumt für die fahrenden und parkenden Karossen, ganz nach US-amerikanischem Vorbild.

In der Bonner und der Berliner Republik standen die Bedürfnisse der Bleifußfraktion ganz oben auf der verkehrspolitischen Agenda. Man wollte die besten Autos, die schnellsten Straßen und das jederzeitige Vollgas-Testgebiet zum Beweis der beiden erstgenannten Behauptungen.

Das Auto als Distinktionszeichen: Wer mit dem Porsche vorfuhr,
hatte es offenbar geschafft

Das Auto ist im deutschen Land der Herrenfahrer seit dem Krieg etwas anderes gewesen als in Italien oder Frankreich, wo es schlicht als ein Vehikel oder ein Transportmittel betrachtet wurde. Hierzulande ist es ein Distinktionszeichen gewesen. Mit dem PKW dokumentierte man, wo man auf der gesellschaftlichen Leiter stand. Wenn der Nachbar, ein kleiner Angestellter, sich einen BMW oder einen Mercedes leistete, wollte der Herr Finanzoberamtsrat sich keine Blöße geben – da musste alsbald eine etwas größere Limousine her, schon wegen der Selbstvergewisserung. Und wer sonntags mit dem Porsche vor der Eisdiele vorfuhr, der hatte es offenbar auf der gesellschaftlichen Leiter ganz nach oben geschafft und fing bewundernde Blicke ein. Der Salzburger Erziehungswissenschaftler Volker Krumm meinte: „Der ganz normale Mensch ist seinem Auto verfallen, er ist süchtig.“ Krumm nannte das die „Mensch-Maschine-Verstrickung“. Er muss bei seiner Diagnose das nördliche Nachbarland im Sinn gehabt haben.

Für die Interessen der automobilen Haushaltsvorstände setzte sich von jeher der ADAC ein. Die sympathische gelbe Lobbyorganisation in der Verkleidung eines Vereins wusste schon aus Rücksicht auf die Gruppe der Raser unter seinen 21 Millionen Mitgliedern (2019) jeden zarten Hinweis auf die Sinnhaftigkeit eines Tempolimits mit aller Härte abzubürsten. Der Auto-darf-alles-Club, wie ihn die Umweltorganisation Robin Wood taufte, wütete gegen die 0,8-Promille-Grenze, befürwortete das Parken auf Gehwegen und lehnte das Flensburger Punktesystem ab, er stritt gegen „automordende Alleebäume“ und monierte einen „unzureichenden Straßenbau“. Der gelbe Riese schrieb Verkehrskonzepte aus der Windschutzscheibenperspektive und feierte stets das Hochamt aufs Auto und seinen Fahrer.

Der neue Mann gleitet sanft
und beinahe still über den Teer

Für viele Automobilisten, vor allem des selbsternannten „starken Geschlechts“, zählten der Kickstart, das Reifenquietschen, das Turbobeschleunigen, das Vogelzeigen, der Adrenalinschub und das Blut-in-den-Kopf-Abbremsen bei Tempo 200, wenn ein Laster mit 80 Stundenkilometern ausschert, zu ihrem grandiosen deutschen way of life. Das Auto als Lustobjekt, als Seelenbefriedigung, als Egoverstärker, als vergötztes Vielzweck-Vehikel – und nicht selten als Waffe gegen schwächelnd-langsame Verkehrsteilnehmer.

So wie die National Rifle Association seit Jahrzehnten in den USA auf das Recht des gemeinen Amerikaners auf Schusswaffenbesitz besteht, so unnachgiebig hat der gelbe Club ebenso lang auf die krude und scheinbar maskuline Vollgaslibertät gepocht. Dass viele andere Verkehrsteilnehmer unter dieser hirnfressenden Männlichkeit litten, missdeuteten die Gefürchteten als Anerkennung. Wie schön könnte es für die übergroße Mehrheit der Vernünftigen sein, wenn sie wieder Freude am entspannten und rücksichtsvollen Autofahren hätten. Wer aus dem Ausland nach Deutschland kommt, spürt die aggressive Hektik und Getriebenheit dieses Volkes sofort auf der legendären German Autobahn.

Aber die Welt verändert sich gewaltig. Unvorstellbares wird wirklich. Der neue Mann gleitet sanft und beinahe still mit einem guten Gefühl und Gewissen am Steuer seines Teslas, BMW-I3s oder Renault Zoes über den Teer. Er genießt die Aura des leisen, guten, naturverbundenen automobilen Ökohelden. Des Richtungsgebers für eine bessere Zukunft.

Siehe da: Die dreifaltige Gemeinschaft des Glaubens
ans tollkühne Tempo bröckelt

Wenn er mal bremsen muss, lädt er damit den riesigen Akku auf. Seine Kinder demonstrieren freitags für ihre Zukunft auf einem sauberen Planeten und fragen den Nachbarn, warum er sich für einen kastenartigen Verbrennerboliden entschieden hat, der – gemessen an den neuen E-Modellen – aussieht und dröhnt wie ein Vehikel aus der Vormoderne. Die aggressiven Fahrer in ihren allradgetriebenen schwarzen Lederappartements mit Riesenkühlern und maximal blendenden Schlitzlichtern spüren Ablehnung statt Anerkennung. Immer häufiger finden Sie Aufkleber am Lack und Flyer unter dem Scheibenwischer: „Schade, dass Sie SUV fahren!“ steht da. Oder: „FCK SUV“. Oder: „Diesel? Nein danke!“ Oder: „Du stinkst!“

Und siehe da, die dreifaltige Gemeinschaft des Glaubens an die grenzenlose Raserei bröckelt: Die Automobilhersteller fürchten sich vor den Strafen der EU, wenn sie ihre Durchschnittsverbräuche nicht auf 95 Gramm CO2 pro Kilometer Fahrtstrecke senken. Diese Grenze gilt ab 2021 EU-weit für alle Herstellerflotten. Solche Werte lassen sich nur erreichen mit rasanten Verkaufserfolgen bei vollelektrischen oder hilfsweise Hybrid-Autos. Jetzt sind die Auto-Konzerne in der misslichen Situation, jene Fahrzeuge glaubwürdig als das neue Heilsversprechen promoten zu müssen, die sie jahrzehntelang – in kongenialer Harmonie mit den ihren Diesel- und Ottoaggregaten sehr zugetanen sogenannten „Motorjournalisten“ – verächtlich gemacht haben als Spielzeuge für Exzentriker, Liegefahrrad-Vegetarier oder sonstige Straßenverkehrs-Parias.

Die Äußerungen des Ministers erinnern
an die Einsichtsfähigkeit eines Kamikazepiloten

Den Stromer-Besitzern kommt ein Tempolimit entgegen, weil sie damit naturgemäß noch gleichmäßiger und entspannter surren – immer im Wissen, auch anders zu können, wenn sie wollten und es nicht zu tun, um die archaischen Turbotreter nicht zu demütigen. Auch fürs künftig vollautomatische Fahren sind gleichmäßige Verkehrsströme mit geringen Geschwindigkeitsunterschieden bedeutsam.

Selbst der ADAC vermeldet neuerdings, nicht an seinem schon immer geistlosen Diktum von der „freien Fahrt für freie Bürger“ festhalten zu müssen. ADAC-Vizepräsident Gerhard Hillebrand sagte, der Club sei „nicht mehr grundsätzlich“ gegen ein Tempolimit. Was aussieht wie ein Dolchstoß in den Rücken des Ministers, kommt einer realpolitischen Einsicht und Anpassung nach. Denn jüngsten Umfragen zufolge spricht sich selbst beim Club derjenigen, die ihr Fahrzeug mitunter als verlängertes Selbst begreifen und entsprechend hätscheln, fast jeder Zweite für ein Tempolimit aus.

Je mehr Verkehr schleicht und kriecht und staut,
desto unsinniger ist das Rasenlassen

Angesichts der schwindenden Solidarität seiner Getreuen könnte in nicht mehr allzu ferner Zeit auch Bundesverkehrsminister Scheuer zur Einsicht gelangen, dass Raser gern hin und wieder auf Kartbahnen und sogar auf dem Nürburgring die Fliehkräfte testen können – aber nicht auf öffentlichen Straßen. Zumal der Minister ohnedies unter Druck steht, weil der Verkehr in Deutschland als einziger Sektor seit 1990 seine Emissionen nicht signifikant reduziert hat. Spätestens dann, wenn CDU und CSU in der nächsten Bundesregierung nicht mehr mit der SPD, sondern mit den Grünen koalierten, würde das Tempolimit gewiss im Koalitionsvertrag stehen. Scheuers bisherige Äußerungen über ein Tempolimit erinnern aber an die Einsichtsfähigkeit eines Kamikazepiloten im Sturzflug und qualifizieren ihn nicht unbedingt für die Umsetzung des Limits in der nächsten Legislaturperiode.

Das deutscheste aller Fahrzeuge wird ohnedies zunehmend zum Stehzeug. Je mehr Verkehr schleicht und kriecht und staut, desto unsinniger ist das Rasenlassen. Infolge sozialer Entwicklungen wächst das Verkehrsaufkommen beharrlich: kleinere Familien, größere Entfernungen zum Arbeitsplatz und zum Einkaufszentrum, mehr geschiedene Ehen, mehr berufstätige Frauen. 47 Millionen PKW und Kleintransporter und weitere 10 Millionen LKW, Busse, Spezialfahrzeuge, Landwirtschafts- und Bauvehikel verstopfen die Straßen.

Hier, auf der wilden Piste, lebt diese Spezies.
Hier geht sie jagen, holt sich Erfolge und Anerkennung

Der Minister aber bleibt dabei, weiterhin ökologische Folgeschäden auf die nächsten Generationen zu verlagern. Er redet nicht wie jemand, der schon mal eine Sekunde seines Lebens über die Entbehrlichkeit des Rasens reflektiert hätte. Seine Standfestigkeit gemahnt an Molières Wort, der sagte: Wir sind nicht nur dafür verantwortlich, was wir tun, sondern auch dafür, was wir nicht tun. Anfang 2019 polterte Scheuer, die Empfehlungen einer von seiner eigenen Regierung eingesetzten Kommission für ein Tempolimit und für höhere Benzin- und Dieselsteuern sowie eine Ausrichtung der KFZ-Steuern auf den CO2-Ausstoß seien „gegen jeden Menschenverstand“. Sein Argument fürs ungehemmte Rasen: Die Praxis habe sich bewährt.

Das kann man auch sehr anders sehen.

Einer Politik, die Wahrheiten wie Meinungen behandelt,
mangelt es an Würde

Wir Menschen wollen manchmal nicht wahrhaben, dass obsolet ist, woran wir jahrzehntelang geglaubt haben. „Wer ein Ziel hat, soll im Auto sitzen, und wer keines hat, ist ein Spaziergänger und gehört schleunigst in den nächsten Park“, schrieb der Berliner Senat 1957 in einer Drucksache. Das waren klare Verhältnisse: Die Straße gehört dem Autofahrer, niemandem sonst. Hier, auf der wilden Piste, lebt diese Spezies in ihren Blechboxen, hier geht sie jagen, hier holt sie sich Erfolge und Anerkennung.

Sieben Jahre später konstatierte Hannah Arendt in ihrem Essay „Wahrheit und Politik“, einer Politik, die Tatsachen bzw. Wahrheiten absichtsvoll wie Meinungen behandelt, mangele es an Würde. Eigentlich kann man über Wahrheiten nicht streiten. Dass ein Tempolimit dem Klimaschutz dient, dass es die Zahl von Unfällen, Toten und Verletzten verringert, dass die Autofahrer dadurch weniger gestresst sind und ebenso die vielen Anwohner – all dies ist wissenschaftlich belegt. Und jedermann mag selbst nach Österreich, in die Schweiz, nach Italien, Frankreich, Schweden, Belgien, Dänemark oder in die Niederlande fahren und den angenehm gleichmäßigen Verkehrsfluss bei geringen Tempounterschieden genießen.

Ein Kämpfer für die ultimative Mann-Maschine-Symbiose.
Der letzte seiner Art

Vielleicht hätte Immanuel Kant seinen kategorischen Imperativ heute so formuliert: Stelle Dir bei Deinem eigenen Autobahnverhalten vor, was passieren würde, wenn alle so handelten wie Du selbst. Aber der Bundesverkehrsminister wandelt sich nicht zum Ökohelden, zum Freund der Fußgänger und zur Identifikationsfigur für Schnellstraßen-Anwohner. Er steht zu seiner einmal gebildeten Meinung – und sei sie noch so falsch. Das untermauerte er 2019: Als der Europäische Gerichtshof seine Mautpläne ein für allemal gekippt hatte, verlautete Scheuer scheinbar unbeirrt, er habe „eine andere Rechtsauffassung als der EuGH“.

Weil er seine Transformation nicht selbst steuert, wird sich sein Ansehen spätestens 2021 wandeln vom lustigen E-Scooter-Ondi zum tragischen Helden der Bleifußpiloten in ihren röhrenden „Sport-Wagen“ und tiefergelegten Polos. Ein unbeugsamer Kämpfer für die ultimative Mann-Maschine-Symbiose im realen Renngebiet der deutschen Autobahn. Der letzte seiner Art.