Die Katholische Kirche erlebt ihre Marginalisierung und Kriminalisierung infolge des Missbrauchs in ihren Reihen – und sie tut sich unfassbar schwer mit der Läuterung. Der Reputationsverlust kann nur mit grundlegenden Einschnitten behoben werden.

Die Katholische Kirche denkt und agiert anders als andere Organisationen. Ihr Tun wird nicht beeinflusst durch ein hektisches Opportunitätspostulat der Politik, durch Quartalszahlen an der Börse oder den Zeitgeist. Vielmehr findet sie ihren Weg durch die Zeit im Rhythmus der Generationen und Jahrzehnte mit vorsichtigen Justierungen ihrer Lehre und Normen. Alles Umstürzlerische und grundlegend Reformerische ist ihr so fremd und suspekt wie ein homosexueller hinduistischer Hippie auf Hasch.

Bis zum Bekanntwerden von Missbrauchsverbrechen durch geweihte Amtsträger in vielen Ländern in der Mitte der 1990er Jahre. Zuvor, ab Juni 1985, hatte der National Catholic Reporter erstmals und als einzige US-amerikanische Zeitschrift jahrelang über den Missbrauch im US-Klerus berichtet. In den USA wurden für die Jahre 1950 bis 2002 nach Auswertung der American Society of Criminology 4.392 Fälle von tatverdächtigen Priestern mit 10.667 möglichen Fällen von sexuellem Missbrauch registriert.

2010 schließlich kamen auch viele erschreckende Einzelheiten und widerliche Taten aus deutschen Bistümern ans Licht. Taten, die bei den Gepeinigten wohl immer verbunden sind mit irreparablen Schmerzen für ein ganzes Leben lang.

Weltweit das gleiche Bild – zigtausende Fälle:
Gewalt, Erniedrigungen, Missbrauch

In etlichen Einrichtungen sind über Jahrzehnte hinweg Mädchen und Jungen erniedrigt, geschlagen und sexuell missbraucht worden. Vom Bistum Aachen bis zum Bistum Augsburg, von Eichstätt bis Erfurt, von Paderborn bis Passau – überall Verfehlungen, Verdächtigungen, Verfahren und Vertrauensverlust. Seither wird die deutsche Bischofskonferenz, eine Gemeinschaft von würdevollen Männern jenseits der Lebensmitte, etwas weltlicher angegangen. Denn für Verbrechen ist das ordinäre Strafrecht zuständig.

Franz-Josef Bode, Bischof des Bistums Osnabrück, beklagte 2010 im Osnabrücker Dom: „Um des Ansehens der Kirche willen wurden Täter geschützt und Opfer ein zweites Mal geopfert.“ Er rief dazu auf, die Kirche müsse sich erneuern. Aber es gibt auch andere Stimmen: So warf der Regensburger Bischof Gerhard Ludwig Müller 2013 den Medien im Missbrauchsskandal eine „Kampagne gegen die Kirche“ vor und rückte die laufende Berichterstattung in die Nähe der kirchenfeindlichen Haltung der Nationalsozialisten.

Immerhin macht sich bei vielen Klerikalen Nachdenklichkeit breit. Der Beauftragte für sexuellen Missbrauch im Bistum Dresden-Meißen, Prälat Armin Bernhard, gestand 2010 ein, man habe das Thema Pädophilie zu lange tabuisiert: „Früher hat man den Fehler gemacht, dass man diejenigen versetzt hat. Dann kann es immer weitergehen.“

Das Problem der Kirche reicht weit über Deutschland hinaus – weltweit das gleiche Bild. Priester, Ordensleute, Erzieher haben sich an Kindern und Jugendlichen vergangen; zigtausende Fälle, von Belgien bis Bosnien, von Chile bis Costa Rica, von den Vereinigten Staaten bis Vatikanstadt. Die Kirche indes legt kein Zeugnis ab über die Zahl der Opfer, der Verfahren, der Beschuldigten. Schätzungen gehen von zehntausenden von missbrauchten Kindern für einzelne Länder aus, beispielsweise die Niederlande, wie die New York Times am 16.12.2011 berichtete.

Die Kirche ist Opfer ihrer selbst.
Aber vor allem ist sie Täter

Die Katholische Kirche ist schwer erkrankt – an merkwürdigen Dogmen, an Unfehlbarkeitspostulaten, an Machtmissbrauch, an ihrer Reformunfähigkeit, an der kriminellen Verstrickung mancher Funktionäre, an zweifelhaften Anforderungen für den Umgang mit Sexualität, an der Vertuschung der Wahrheit und an dem offenbar verbreiteten Irrglauben, außerhalb der weltlichen Rechtsprechung zu stehen. Sie leidet an sexueller Nötigung, an Vergewaltigung, an Gewalt gegen Schutzbefohlene und an anderen Verbrechen und weiß nicht recht damit umzugehen. Sie ist Opfer ihrer selbst. Aber vor allem ist sie Täterin. Denn die Verbrecher kommen aus ihren Reihen. Sie trägt schwer an ihrer Verantwortung, an ihren systemischen Fehlern, ihrem Wegschauen, Vertuschen, Leugnen, an der enormen Schuld vieler ihrer „Bürdenträger“.

Die Menschen spüren allenthalben: Es stimmt etwas Grundlegendes nicht am System Katholische Kirche. Die Organisatoren des Glaubens haben ihre eigene Glaubwürdigkeit verloren. Und es gibt kein schlimmeres Urteil über eine Einrichtung, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, für die Seelen der Menschen zu sorgen, vor allem dann, wenn sie verzweifelt sind, wenn sie Trost und Anteilnahme dringend benötigen. Wenn ausgerechnet ungezählte Repräsentanten dieser Instanz, deren Kernkompetenz die Barmherzigkeit ist, Menschen barbarisch erniedrigt und gequält haben, dann hilft keine Reinigung des Hauses mehr, sondern nur noch eine Kernsanierung nebst Erneuerung. Sonst will niemand mehr drinnen wohnen. Die Alternative wäre, um im Bild zu bleiben: Abriss und Neubau.

Die Kirche kann sich nicht
selbst „ent-schuldigen“

Also versucht die Katholische Kirche seit zehn Jahren, die Verbrechen aufzuarbeiten. Wissenschaftler wurden beauftragt, Opfer gehört, weitere Geschädigte aufgefordert, sich zu melden. Psychiater kümmern sich um Missbrauchsopfer, Polizisten ermitteln, Verdächtige schweigen oder verharmlosen, Gerichte sprechen Angeklagte frei und verurteilen andere. Viele Fälle gelten als verjährt, so dass die Täter nicht mehr strafrechtlich belangt werden können. Hier hat die schambehaftete Deliktform den Tätern genutzt, denn mitunter haben sich missbrauchte Menschen lange nicht getraut zu berichten, was ihnen angetan wurde. Weil sie dachten, sie seien alleinige Opfer. Oder weil sie bedroht wurden. Oder weil ihnen irgendwie eingeredet worden war, sie seien mitverantwortlich für das Geschehen. Zum Bekennen als Leidtragender, als Gepeinigter und als Opfer gehört viel Mut.

Um dem Anspruch der „Aufarbeitung“ gerecht zu werden, stellen Bistümer die beauftragten Gutachten über die Verbrechen zumeist in regionalen Pressekonferenzen vor. Ein hochgestellter Kirchenmann bringt dann üblicherweise ein zerknirschtes „Entschuldigung!“ heraus. Wobei man sich – Achtung: Semantik! – nicht selbst entschuldigen, sondern allenfalls seine Opfer bzw. die Geschädigten um Entschuldigung bitten kann. Das sollte eine Einrichtung wissen, die viel von Schuld und Schuldigern predigt.

Über den Gestus einer Andeutung
kommen die kleinkarierten Zahlungen nicht hinaus

Zudem wird dann meist etwas Geld verteilt an die nachgewiesenen Opfer für jahrelanges Leid und lebenslange Scham, Unsicherheit, Wut und vielfältige psychische Leiden und Not. Die Beträge sind fast immer jämmerlich – in der Regel nur wenige tausend Euro. Von einer „Wiedergutmachung“ oder einer in Geld ausgedrückten „Sühne“ kann keine Rede sein. Über den Gestus einer Andeutung bzw. eines Symbols kommen diese kleinkarierten Zahlungen nicht hinaus, zumal von einer Institution, die für Prunk und Pracht und Größe bekannt ist und jedes Jahr etliche Steuermilliarden in Deutschland einnimmt.

Eine von allen katholischen deutschen Bischöfen in Auftrag gegebene Missbrauchsstudie „Sexueller Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz“ (MHG-Studie) sollte helfen, die Ursachen der Verbrechen an Kindern und Jugendlichen in der Katholischen Kirche aufzuklären. Dabei wurden Personalakten von 38.156 KIerikern aus allen 27 Diözesen begutachtet. Lange acht Jahre brauchten die Bischöfe, bis sie Ergebnisse ihrer Studie am 25.9.2018 bei ihrer Vollversammlung in Fulda vorstellten. In der Studie heißt es: „Dabei fanden sich bei 1.670 Klerikern der katholischen Kirche Hinweise auf Beschuldigungen des sexuellen Missbrauchs Minderjähriger. Das waren 4,4 Prozent aller Kleriker aus den Jahren 1946 bis 2014, von denen Personalakten und weitere Dokumente in den Diözesen durchgesehen wurden. Diese Zahl stellt eine untere Schätzgröße dar; der tatsächliche Wert liegt aufgrund der Erkenntnisse aus der Dunkelfeldforschung höher.“

Nur bei 33,9 Prozent der dokumentierten Fälle ist gegen die Beschuldigten ein kirchenrechtliches Verfahren wegen sexuellen Missbrauchs eingeleitet worden. „Der Anteil von Strafanzeigen durch Repräsentanten der katholischen Kirche betrug 19,4 Prozent“, schreiben die Autoren der Studie. Und weiter: „Etwa ein Viertel aller eingeleiteten kirchenrechtlichen Verfahren endete mit keinerlei Sanktionen. Aus kirchlicher Sicht drastische oder irreversible Sanktionen wie Entlassung aus dem Priesterstand oder Exkommunikation waren in geringer Zahl verzeichnet. Die Mehrheit ausgesprochener Sanktionen erschien als leicht, mit zum Teil möglichen problematischen Folgen hinsichtlich des Rückfallrisikos (z.B. Versetzungen).“

Missbrauchsstudie: „Der Klerikalismus kann zu einer Haltung
führen, nicht geweihte Personen in Interaktionen zu dominieren“

Die Studie kommt zu dem Ergebnis: Die Gründe liegen tief im System – in der Tabuisierung von Gewalt und Sexualität, in der Macht der Priester und Bischöfe, im Streben, die Kirche zu schützen vor Kritik, im selbstverständlichen und selbstauferlegten Vertuschen von Wahrheiten. Die Wissenschaftler empfehlen der Kirche, den Klerikalismus zu überdenken, den sie definieren als „das Bestreben, einer Religion über die religiös-geistige Einflusssphäre hinaus weltliche Macht zu verleihen und religiösen Dogmen politische Geltung und politisches Gewicht zu verschaffen“. Auch regen die Experten an, die Katholische Kirche solle über den Zölibat sowie über ihre Haltung zur Homosexualität reflektieren.

Beeindruckend klar kommen die Wissenschaftler zu dem Ergebnis (S. 13): „Sexueller Missbrauch ist vor allem auch Missbrauch von Macht. In diesem Zusammenhang wird für sexuellen Missbrauch im Kontext der katholischen Kirche der Begriff des Klerikalismus als eine wichtige Ursache und ein spezifisches Strukturmerkmal genannt (Doyle, 2003). Klerikalismus meint ein hierarchisch-autoritäres System, das auf Seiten des Priesters zu einer Haltung führen kann, nicht geweihte Personen in Interaktionen zu dominieren, weil er qua Amt und Weihe eine übergeordnete Position inne hat. Sexueller Missbrauch ist ein extremer Auswuchs dieser Dominanz. Bei Kirchenverantwortlichen kann ein autoritär-klerikales Amtsverständnis dazu führen, dass ein Priester, der sexualisierte Gewalt ausgeübt hat, eher als Bedrohung des eigenen klerikalen Systems angesehen wird und nicht als Gefahr für weitere Kinder oder Jugendliche oder andere potentielle Betroffene. Dann kann die Vertuschung des Geschehens und die Schonung des Systems Priorität vor der schonungslosen Offenlegung entsprechender Taten gewinnen. Eine so verstandene Kirchenraison fördert Geheimhaltung, Vertuschung und ungeeignete Reaktionen wie die in Teilprojekt 6 ermittelten Versetzungs- oder Sanktionierungspraktiken, die eher dem Schutz der Institution und des Beschuldigten dienen und die Interessen der Betroffenen außer Acht lassen.“

Erzbischof Scicluna vergleicht das Verhalten der Kirche
mit der Omertà, dem Schweigegelübde der Mafia

Können diese Erkenntnisse den Auftraggebern neu gewesen sein? Er bitte um „Vergebung für alles Versagen und allen Schmerz“, sagte Kardinal Reinhard Marx: „Wir haben zu lange weggeschaut, um der Institution willen und des Schutzes von uns Priestern und Bischöfen willen.“ Eigentlich ein ganz guter Satz, sofern ihm grundlegende Taten folgen.

Andere Würdenträger gehen weiter als er. Charles Scicluna, Erzbischof von Malta, sagte im Februar 2019 bei der von Papst Franziskus einberufenen Missbrauchskonferenz in Rom: „Ob Sie es nun Omertà oder einfach eine Form des Leugnens nennen, ob es kriminelles oder nur boshaftes Komplizentum ist – wir müssen das überwinden, wir müssen jeden Schweigecode brechen.“ Die Begriffsgleichheit mit der Omertà, dem Schweigegelübde der Mafia, verwendete Scicluna gewiss nicht ohne Grund. Wie viele solcher ungeschriebenen „Schweigecodes“ es wohl gegeben haben mag – und teils noch immer gibt in der Katholischen Kirche?

Am 28. April 2020, weitere eineinhalb Jahre nach der Präsentation der deutschen Studie, verkündeten Johannes-Wilhelm Rörig, der Unabhängige Beauftragte der Bundesregierung für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, und der Missbrauchsbeauftragte der Bischofskonferenz, Bischof Stefan Ackermann: In allen 27 deutschen Bistümern sollen unabhängige Kommissionen Missbrauchsfälle untersuchen. Die Kommissionen wurden besetzt mit Vertretern des jeweiligen Bistums, Experten aus der Wissenschaft und der Fachpraxis, der Justiz, der öffentlichen Verwaltung und Betroffenen.

Haben die deutschen Bischöfe die Kraft,
sich über die Wünsche des Vatikans hinwegzusetzen?

Während die Gesellschaft und die Opfer abermals warten, haben die Bischöfe ein Konstrukt erfunden, in dessen Rahmen tatsächlich alles diskutiert werden soll: sämtliche kritischen Themen. Sie nennen es ihren „Synodalen Weg“. Auf diesen ausgelobten Pfad haben sich am 1. Dezember 2019 die 27 Diözesanbischöfe und 200 Frauen und Männer aus dem katholischen Kirchenvolk begeben. Zwei Jahre lang wollen sie darüber beraten, wie sich ihre Kirche ändern muss und wie sie wieder glaubwürdig werden kann. Es geht um die Lebensform der Priester, um die Sexualmoral ihrer Kirche und um den Zugang von Frauen zu Weiheämtern.

Was wird am Ende des „Synodalen Weges“ stehen? Welche Veränderungen werden die Bischöfe mittragen? Etwaige Neuerungen werden sie gegenüber ihrer Zentrale in Rom erklären müssen. Werden sie die emanzipative Entschlossenheit, die argumentative Kraft und den reformerischen Willen haben, sich in ihrer Region über die Wünsche des Vatikans hinwegzusetzen? Das ist kaum denkbar, schließlich gibt es keine Deutsche Katholische Kirche, sondern nur eine Römisch-Katholische Weltkirche. Immerhin wird im Vatikan der Synodale Weg geduldet.

Im Übrigen hat die Weltkirche auch nichts einzuwenden gegen die spezielle deutsche Weise beim Einzug der Kirchen-Mitgliedsgebühren durch die Finanzämter in Form der „Kirchensteuer“. Insoweit hat sich die Katholische Kirche hierzulande schon immer einen Nimbus als etwas besondere Landeszweigstelle Roms erarbeitet.

Keine Konfession hat heute noch
eine Bestandsgarantie

Der gemeinsame Aufbruch zum Dialog ist neu und wird von der Gesellschaft mal wohlwollend, mal distanziert und kritisch beobachtet. Hier darf sich die Kirche eigentlich keine Fehler mehr erlauben. Sonst schlittert sie immer weiter aus dem Vertrauen der Menschen und hinein in die gesellschaftliche Bedeutungslosigkeit. Es geht in dieser christlich geprägten Gesellschaft in den nächsten Jahrzehnten um nicht weniger als die Existenz der beiden großen staatlich geförderten Amtskirchen. Sie wissen: Keine Konfession hat heute noch eine Bestandsgarantie. Wenn Deutschland beispielsweise die Säkularisierung so vorantriebe wie es Frankreich getan hat, so dass der Staat den Kirchen nicht mehr beim Einzug der Kirchenabgaben behilflich wäre, dann könnten die beiden großen Kirchen abrutschen in eine Lage von unmaßgeblichen Randgruppen. Denn wie Umfragen bestätigen, sind viele Kirchensteuerzahler nur noch Gewohnheitsmitglieder, die nicht viel verbindet mit ihrer Kirche und die glauben, sie bräuchten die Einrichtung nur für allerlei Anlässe wie Taufen, Hochzeiten und Beerdigungen. Aber selbst bei solchen Veranstaltungen ist die Kirche ersetzlich.

Die beiden Amtskirchen indes haben kein Interesse an dieser Art der Verweltlichung, die ihren Bedeutungsverlust beschleunigen würde. Auch von der Politik wird hierzulande häufig verwiesen auf die christliche Tradition, den christlichen Wertekanon, die christlichen Gebote und das christliche Verständnis von Menschenliebe und kirchlicher Seelsorge. Die beiden großen christlichen Konfessionen zählen sonach zu Deutschland wie der Dom zu Köln und der Michel zu Hamburg. Man möchte stolz sein können auf die gemeinsamen Werte und Lebensweisen.

Der Synodale Weg soll aufzeigen, wie die Gesellschaft wieder Vertrauen finden könnte zu Kirche und Klerus. Wegen der Corona-Pandemie stockt der Prozess allerdings. Erst ein einziges Mal haben sich alle Teilnehmer des Synodalen Weges in ihren vier Gruppen getroffen und diskutiert. Am 4. September 2020 kamen sie nochmals zu ihren jeweiligen Themenkreisen in Regionenkonferenzen in Berlin, Dortmund, Frankfurt, Ludwigshafen und München zusammen. Die nächste Versammlung aller Beteiligten wurde auf den Herbst 2021 verschoben. In diesem Tempo können die zunächst veranschlagten zwei Jahre nicht ausreichen, um tatsächlich einvernehmlich Maßnahmen zu verabschieden und schnell umzusetzen, und zwar auch gegen manche Widerstände von Anhängern der Restauration in der Kirche.

Die Kleriker sollen ihre Sexualität
in einem heiligen Geniestreich „sublimieren“

Viele Menschen fragen, ob das Versagen der Kirche bei den Verbrechen in ihren eigenen Reihen auch etwas zu tun hat mit dem im Mittelalter erfundenen Ritus des Zölibats. In der Bibel kommt der Begriff nicht vor. Die Kirche könnte ihn folglich sofort aufheben. Die Ehelosigkeit der Priester wurde erst 1139 bei einem Laterankonzil normiert. In den ersten elf Jahrhunderten Christentum war davon keine Rede gewesen. Kirchenhistoriker, die sagen, der Zölibat könnte deshalb abgeschafft werden, widersprechen insoweit Dogmatikern und Fundmentaltheoretikern.

Priester, Pfarrer, Bischöfe, Kardinäle und andere Mitglieder des Klerus sollten ab dem 12. Jahrhundert weder heiraten noch im Konkubinat leben noch Kinder haben. Ihnen wurde auferlegt, komplett sexuell enthaltsam zu bleiben, ihre Triebe abzutöten, und sei es mit Gewalt, z.B. mittels Fasten und Selbstgeißelung. Die Kirchenmänner, so die mittelalterliche Anweisung, müssten ihre Sexualität gleichsam in einem heiligen Geniestreich „sublimieren“. Das Wort benutzen katholische Theoretiker vorzugsweise, wenn sie gefragt werden, wo der Sexualtrieb des kirchlichen Amtsträgers hin ist. Damit meinen sie, die betroffenen Männer könnten ihre Sexualität irgendwie nützlich auf eine andere, höhere Ebene bringen und sie nur Jesus, der Kirche und der Gemeinde widmen…

Die verschwurbelte Erklärung von der „sublimierten Sexualität“ reichte der Politik und der Gesellschaft über Jahrhunderte hinweg aus. Selbst in der Moderne fragte kaum jemand nach und prüfte, ob es mit dem Sublimieren möglicherweise nicht so einfach ist, wie die Kirche sybillinisch deklamierte. Eine Kausalität zwischen Zölibat und Missbrauch hat die Kirchenführung in Rom stets bestritten. Der Zusammenhang erscheint zwar plausibel, er wurde aber offenbar noch nie wissenschaftlich bewiesen. Bleibt zu hoffen, dass Forscher bald die Beweggründe der klerikalen Täter ergründen werden. In dem Moment, in dem eine solche Kausalität feststünde, wäre der Zölibat Geschichte. Das weiß auch der Vatikan.

Die Entsexualisierung von Priestern funktioniert nicht.
Sie hat nie funktioniert

Warum wirft er den merkwürdigen mittelalterlichen Brauch nicht präventiv über Bord, bevor der Zölibat möglicherweise als einer der Gründe für die schlimmsten Taten entlarvt wird? Immer wieder versuchte Rom, den Zölibat zu rechtfertigen: So postulierte Papst Pius X. in einem Lehrschreiben des Jahres 1908, die Priester sollten durch den „Glanz ihrer heiligen Keuschheit“ Engeln ähnlich werden. Sie würden eine „übernatürliche Segenskraft“ entfalten und von den Kirchengemeinden für ihre Enthaltsamkeit besonders geachtet werden.

Selbst wenn diese denkwürdige Begründung vor mehr als 100 Jahren anerkannt wurde, heute kann sie nicht mehr Grundlage eines Dogmas sein, nicht nach diesen Verbrechen und Missetaten, die die Grundfeste der Kirche erschüttern. Jeder weiß: Die Entsexualisierung von Priestern funktioniert nicht, sie hat nie funktioniert. Die geweihten Männer bleiben irdische Wesen.

Dem klerikalen Männerbund fehlt ein weibliches,
familiäres, junges Korrektiv

Ob die Doktrin, wonach ein katholischer Pfarrer auf Frau und Kinder zu verzichten hat und seine Sexualität „sublimieren“ soll, am Leben im 21. Jahrhundert vorbeigeht, darüber zu diskutieren, empfinden manche Kleriker schon als Tabu. Ein weibliches, familiäres, junges Korrektiv fehlt, denn die Bischöfe und Kardinäle sprechen zwar mit den freiwilligen und nebenberuflichen Gemeindevorständen und auch mit den angestellten Kirchenmitarbeiterinnen und -mitarbeitern, aber sie entscheiden gänzlich allein.

Libertäre Gedanken einer Erweiterung der eigenen Lebenswelt mit Frau und Kindern wie in evangelischen Gemeinden empfinden manche womöglich als Verrat an ihrem bisherigen Leben. Diese Haltung erschwert jeden Wandel. Immerhin haben sich die katholischen Laien in Form des Zentralkomitees der deutschen Katholiken bei ihrer Vollversammlung im November 2018 dafür ausgesprochen, den Pflichtzölibat für Priester abzuschaffen.

Der Zölibat ist ein aus der Zeit gefallener Brauch,
den nur nur 13 Prozent der Katholiken für richtig halten

Der Zölibat ist zwar nur eine menschenfeindliche Tradition, nicht mehr. Rom tut aber nach wie vor so, als sei er sakrosankt. Wie Kirchenvertreter gestehen, gibt es auch ökonomische Gründe, die aus der Sicht der Kirche für den Zölibat sprechen. Viele Priester ohne Frauen und ohne Nachkommen vererben ihr Vermögen an die Kirche.

Priester mögen ja vergeistigt und weltentrückt sein. Aber ihrer Sexualität können sie sich nicht entledigen. Warum auch? Wollen sie sie indes leben, werden sie von ihrer Kirche zur Bigotterie gezwungen. Sie führen dann ein Doppelleben. Viele von ihnen beschäftigen ihre Partnerin als „Haushälterin“. Fast die ganze Gemeinde weiß es und hat nichts dagegen, weil sie ihren Pfarrer schätzt und ihn behalten möchte. Der Betroffene aber macht sich erpressbar. Er kann jederzeit seine Stelle und seinen Beruf verlieren, wenn ihn jemand beim Bischof denunziert. Diese Priester leben ebenso unter einem ständigen psychischen Druck wie die schwulen, die sich nicht trauen, ihre Homosexualität zu bekennen. Denn das ist genauso verboten wie die Beziehung zu einer Frau oder eine Familiengründung.

All das sollte auch in Rom bekannt sein. Aber die Päpste tun seit Jahrzehnten nichts gegen die allgegenwärtige Scheinheiligkeit – um eines aus der Zeit gefallenen Brauches willen. Damit zementieren sie die Unglaubwürdigkeit ihrer Institution und zerschneiden das Band des Vertrauens zu den Gläubigen.

„Es gibt keine theologischen Argumente,
sondern es waren rein pragmatische“

„Es gibt keine theologischen Argumente, sondern es waren rein pragmatische Argumente, warum der Zölibat eingeführt wurde, die heutzutage nicht mehr gelten“, sagt Gregor Podschun, der Vorsitzende des Bundes der deutschen katholischen Jugend. Er kann sich sicher sein, dass die übergroße Mehrheit der Katholiken in Deutschland das genauso sieht. Eine repräsentative Studie des Instituts für Demoskopie in Allensbach fand 2009 heraus: Nur 13 Prozent der katholischen Bürger halten den Zölibat für richtig.

Seit Jahrhunderten hat die Papstkirche ein Problem mit ihrer Haltung der gesamten Geschlechtlichkeit gegenüber. Sexualität wird von vielen Klerikern nicht als ein Geschenk Gottes erkannt, sondern als etwas Verwerfliches angesehen, was vor der Hochzeit nicht gelebt und danach nicht genossen werden soll. Die Geschlechtslust betrachten sie als schmutziges Geschäft, als Strafe für den Sündenfall. In ihrem lustfeindlichen Sexualpessimismus warnen sie vor dem „Götzendienst des Fleisches“ und der „Knechtschaft der Begierde“. Der Geschlechtsakt wird als Malus diskreditiert und solle kein Vergnügen sein, sondern dürfe nur der Fortpflanzung dienen.

Radikale Dogmatiker meinen wohl, die Kirche würde sich selbst verraten, wenn sie sich der Gesellschaft öffne, die vielen Skandale und Verbrechen in ihren Reihen eingestehe und daraus grundlegende Konsequenzen ziehe. Vielleicht fürchten sie, die Kirche könnte in dieser Form keine Zukunft haben, wenn die ganze Verderbnis vieler ihrer Repräsentanten bekannt werde. Ein Zusammenhang zwischen Missbrauch, Zölibat und Sexualmoral sei nicht hinreichend bewiesen.

Was aber sonst dokumentieren die vielen Opfer und geweihten Täter als dies: Das katholische Mantra, Priester könnten ihre Sexualität „sublimieren“, ist ein Fehlschluss. In der Missbrauchsstudie heißt es über den Zölibat (Seite 12): „Auch wenn die Verpflichtung zum Zölibat sicherlich keine alleinige Erklärung für sexuelle Missbrauchshandlungen an Minderjährigen sein kann, legt der o.g. Befund nahe, sich mit der Frage zu befassen, in welcher Weise der Zölibat für bestimmte Personengruppen in spezifischen Konstellationen ein möglicher Risikofaktor für sexuelle Missbrauchshandlungen sein kann.“

Die Lordsiegelbewahrer können Zweiflern
mit dem Nihil Obstat drohen

Die Lordsiegelbewahrer der alten Bräuche können leise Zweifler an alten Normen und Dogmen unter den Professoren und Dozenten der kirchlichen Hochschulen ruhigstellen, indem sie sie an das Nihil Obstat erinnern, und ihnen damit letztlich mit dem Entzug der Lehrerlaubnis drohen. Damit täten Blockierer ihrer Einrichtung keinen Gefallen. Denn in dieser Situation hilft nur noch die Katharsis, das vollständige Eingeständnis der Schuld und der Neubeginn mit anderem Personal, anderen Regeln und einem anderen Verhalten.

Mit ihrer beklommenen und bigotten Haltung zur Sexualität stößt die Kirche auch ihre Mitglieder dauerhaft vor die Köpfe. Wer freiwilliges Mitglied ist und monatlich Kirchensteuern zahlt, will nicht ständig im Sinne eines Masochisten gegen alle Vernunft und gegen alle weltlichen Selbstverständlichkeiten von seiner Organisation zum schlechten Gewissen gemahnt werden. Wenn das Kirchenmitglied diese Zwiespältigkeit über Jahre erträgt und dann diese vertuschten und verdeckten Verbrechen im Namen der sonst so fordernden Amtskirche erfährt, dann wird es vermutlich Trauer, Zorn oder Widerstand spüren und ausdrücken.

Manche vermengen noch immer Schwulsein mit Verbrechen;
ein Skandal, der in dieser Kirche keine Folgen hat

Die sehr konservativen Kardinäle Raymond Burke und Walter Brandmüller verlauteten 2019 in einem offenen Brief, die Verantwortung für den Missbrauchsskandal trügen die „homosexuellen Netzwerke“ in ihrer Kirche, womit sie Schwulsein mit Verbrechen vermengen, was an sich schon ein Skandal ist, der in dieser Kirche freilich keine Folgen hat. Schwule und Lesben werden ausdrücklich nicht gesegnet. Auch das homosexuelle Leben – in der Gesellschaft und in der Kirche – markiert ein drängendes Thema im heutigen Katholizismus.

Das hat zumindest Dr. Andreas Heek erkannt. Der Leiter der Arbeitsstelle für Männerseelsorge der Deutschen Bischofskonferenz forderte Anfang 2020 ein Massenouting von homosexuellen Klerikern, um das „homophobe Lehrgebäude“ zum Einsturz zu bringen. Auf diese Weise könnten die schwulen Priester zu einer Enttabuisierung und Entmoralisierung von Homosexualität in der Kirche beitragen. Gleichzeitig beklagt Heek eine mangelnde Solidarität zwischen schwulen Priestern und schwulen Laien: „Wo sprechen die – konservativ geschätzt – 30 Prozent homophile Priester einmal unterstützend für die innerkirchlich marginalisierten homosexuellen Mitbrüder und -schwestern? Wenn viele homophile Priester zusammen gegen die offizielle Lehrmeinung der Kirche rebellierten und sich selbst zu ihrer Homosexualität bekennten, fiele in sich zusammen, was das homophobe Lehrgebäude bislang stützt.“ Weil es an dieser Unterstützung fehle, komme die Segnung homosexueller Partnerschaften nicht voran. Wenn sich schwule Kleriker selbst deutlich ablehnend über Homosexualität äußern, so Heek, internalisierten sie Homophobie.

Der Zölibat führt zu merkwürdigen Ersatzbefriedigungen,
schreibt ein Pfarrer

Was Heek anregt, hat Bernd Mönkebüscher getan. Der katholische Pfarrer aus Hamm in Westfalen hat sich in Buchform als homosexuell geoutet. In seinem Buch „Unverschämt katholisch sein“ kritisiert er den Zölibat und die Priesterweihe nur für Männer. Mitverursacht durch den Zölibat diagnostiziert er bei Klerikerkollegen Ersatzbefriedigungen wie Titelsucht, Kleiderwahl, Weinkonsum, übertriebenen Essenskult, weite Reisen und Machtgehabe. Im Buch behandelt Mönkebüscher auch andere heikle Themen der Katholischen Kirche wie deren Umgang mit Wiederverheirateten und die Höllenangst, besonders unter katholisch-gläubigen alten Menschen.

Ausgerechnet diese sündige Kirche will ihren zahlenden Mitgliedern Sexualmoral predigen und sie von Teilhabe ausschließen, wenn sie ehrlich sind zu sich selbst und ihresgleichen, indem sie sich scheiden lassen und wieder heiraten. Ruhrbischof Franz-Josef Overbeck forderte in einem Zeitschriften-Beitrag, die Kirche müsse ihre negative Bewertung der Homosexualität korrigieren: „Ich selbst bin hier durch meine persönlichen Begegnungen und eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem Thema zu neuen Einsichten gekommen“, schreibt Overbeck.

Bis 2060 wird sich die Zahl der Amtskirchen-Mitglieder
nochmals halbiert haben

Die Verfasstheit der Katholischen Kirche mit ihrer Gehorsamspflicht und ihren Statusunterschieden passt nicht mehr in die Zeit. Selbst beim Militär geht es weniger willkürlich zu – und es gibt Beschwerdestellen sowie eine innere Führung. Genau daran mangelt es in der Papstkirche.

All diese inkonsistenten und vormodernen Faktoren führen zu enormen Austrittszahlen aus der katholischen Amtskirche, der Einrichtung, die von dem Glauben ihrer Mitglieder lebt, sie verkörpere das Haus Gottes. Noch kann man in Deutschland von einer Volkskirche sprechen, wenn es um die beiden christlichen Konfessionen geht. 52,1 Prozent der Bürger zwischen Flensburg und Freilassing sind in einer der beiden Kirchen organisiert (2019). Aber ihnen laufen und sterben die Mitglieder weg. Erheblich mehr Menschen mit Kirchenzugehörigkeit fallen aus dem Register als neue hinzukommen.

Die Entwicklung schreitet seit Jahrzehnten voran. Noch gibt es 22,6 Millionen zumeist kirchensteuerzahlende Katholiken in Deutschland und 20,7 Millionen Protestanten (2019). Aber die Kritik an der Führung wird lauter, besonders in der Katholischen Kirche. Die Macht, der Prunk und die radikale Abschottung der alten Herren an der Spitze der Organisation gegenüber zivilen Veränderungen stößt zunehmend mehr Menschen ab. Sie fragen sich, warum sie ein solches Regime mit ihrem Geld unterstützen sollten. 2019 sind hierzulande 272.771 Mitglieder aus der Katholischen Kirche ausgetreten, das ist neuer Allzeitrekord. Die Situation wird sich in den nächsten Jahren offenbar nicht verbessern. Das Forschungszentrum Generationenverträge der Universität Freiburg hat 2019 errechnet, dass sich die Zahl der Kirchenmitglieder bis 2060 um weitere 48 Prozent verringern wird.

84 Prozent der Bürger
lehnen das Kirchensteuermodell ab

Zur Selbstverständlichkeit gehört hierzulande, dass Kirchenmitglieder eine Steuer entrichten, die speziell ihrer Glaubensgemeinschaft zugutekommen soll. Die Kirchensteuereinnahmen lagen 2019 bei den Katholiken in Deutschland bei 6,76 Milliarden Euro, bei den Protestanten bei 5,95 Milliarden Euro. Die FDP, die Grünen und die Linke stehen diesem System seit Jahren kritisch gegenüber. Es wird darüber diskutiert, inwieweit das Kirchensteuerprivileg der grundgesetzlich festgelegten Trennung von Kirche und Staat widerspricht.

In den beiden Amtskirchen, die als Körperschaften des öffentlichen Rechts eine Aura von Staatskirchen entfalten, ist der Einzug des Kirchengeldes über die Finanzämter unumstritten, gewährleistet diese Form den Diözesen doch die finanzielle Sicherheit. Aber die weitaus meisten Menschen halten das System für falsch: Bei einer repräsentativen Befragung des britischen Meinungsforschungsinstituts YouGov aus dem Jahr 2015 gaben 84 Prozent der Bürger an, das deutsche Kirchensteuermodell abzulehnen.

Aber nicht nur die Gesamtheit der Menschen steht manchen Schrullen des deutschen Kirchenwesens ungläubig gegenüber, sondern auch die Gläubigen und Kirchenmitglieder selbst lehnen manche Lehrsätze ihrer Glaubensgemeinschaft mit übergroßer Mehrheit ab. In der besagten repräsentativen Studie unter Katholiken fanden die Allensbacher Demoskopen im Kirchenauftrag heraus, dass sich ganze 17 Prozent der katholischen Kirchenmitglieder als „gläubige Kirchennahe“ bezeichneten. 37 Prozent hingegen nannten sich „kritisch kirchenverbunden“ und 32 Prozent gar „kirchlich distanziert“.

Eigentlich katastrophal für die Katholische Kirche waren die Zahlen zu einigen Doktrinen: Nur 9 Prozent zeigten sich zufrieden mit der Lehre zur Empfängnisverhütung; der Position zur Homosexualität stimmten 17 Prozent der Katholiken zu. Die Rolle der Frauen in der Katholischen Kirche fanden 19 Prozent okay – wohlgemerkt unter den eigenen Gläubigen und Mitgliedern. Der Vertrauensverlust könnte kaum größer sein. Die Zahlen dokumentieren: Die Kirchenführer haben sich von den Gemeinden entfremdet – sie leben in einer anderen Welt mit überkommenen Dogmen und seltsamen Bräuchen.

Lediglich eine kleine Minderheit der Kirchenmitglieder
vertraut ihrer Führung und deren Leitsätzen

Der Missbrauchsskandal, der erst nach dieser Studie flächendeckend publik wurde, hat die Erosion vermutlich weiter verstärkt. Kurz: Die Katholische Kirche hat ein massives Glaubwürdigkeits- und Reputationsproblem. Nur noch eine kleine Minderheit der eigenen Mitglieder vertraut ihrer Kirchenführung.

Die dichotomische Einteilung in gute Menschen (Gesegnete, Reine; im Einklang mit den Geboten lebende gläubige Christen) und nicht so gute (Sünder, Teufelsanbeter, Ungläubige/Heiden) könnte sich ebenfalls zum Problem für die Katholische Kirche entwickeln. Mit diesem Dualismus macht es sich die Kirche zu leicht. Die Welt ist komplexer. Die meisten Menschen sind weder böse noch uneingeschränkt gut. Jeder kann egoistisch agieren, jeder sündigt mal. Trotzdem wird er nicht glauben, deshalb in die „Hölle“ zu kommen, wo der „Teufel“ lebt und beim „Fegefeuer“ nachlegt. Dieser Angstmache wollen sich viele Gläubige nicht mehr aussetzen.

Wie soll die Kirche ein moralisches Vorbild sein,
wenn sie die eigenen Fehler nicht beseitigt?

Was könnte die Katholische Kirche tun? Um schwierige Situationen zu vermeiden, sollte jede Organisation ihre Risikothemen beständig und konsequent minimieren, sie also aktiv angehen und verändern, um das Allerwichtigste zu schützen: ihre Reputation. Das ist das langfristige Vertrauen all ihrer Anspruchsgruppen.

Die eigenen Störfallthemen in den Griff zu bekommen und Risiken tatsächlich weitgehend auszuschalten, macht Mühe, kostet Zeit, Nerven und Geld. Der Prozess schüttelt eine Organisation durch und führt zu grundlegenden Veränderungen, zu einem vertrauensbildenden Besseren. Mit diesen Entwicklungen stärkt das Management die Resilienz des Unternehmens oder der Institution. Um Störfälle und Katastrophen zu verhindern, bedarf es des Mutes, Altbewährtes, Eingefahrenes und liebgewonnene Schrullen auf den Prüfstand zu stellen und möglicherweise ersatzlos zu streichen.

Aber diese Art eines professionellen Risikomanagements haben die Päpste in den vergangenen zwei, drei Jahrzehnten versäumt. Wie soll die Kirche als moralisches Vorbild gesellschaftliche Veränderungen (Globalisierung, Digitalisierung, Umweltverschmutzung, Klimawandel) hin zu mehr christlichen Werten und humaner Verantwortung vorantreiben oder für Gerechtigkeit eintreten, wenn sie selbst kaum zu Veränderungen bereit ist und ihre internen Ungerechtigkeiten und Fehler weder eingesteht noch sich bemüht, sie zu beseitigen?

„Sie kann nichts mehr werden,
weil sie eine Frau ist.“

Neben dem umstrittenen Ehe- und Sexverbot für Priester beschäftigt sich ein größer werdender Teil des Kirchenvolks mit dem Verbot der Priesterweihe für Frauen. Im Deutschlandfunk versuchte Susanne Keppel, Sprecherin der katholischen Jugendinitiative Pontifex, die Männerclubhaftigkeit ihrer Kirchenführung so zu erklären: „Der Priester erfüllt einen sakramentalen Dienst. Das bedeutet, er verweist auf Christus. Es ist ein Glaubensakt anzuerkennen, dass Christus ein Mann war. Er ist als Mann Mensch geworden.“ Woraufhin ihr Maria Mesrian, Mitinitiatorin der Initiative Maria 2.0, entgegnete: „Ich kann meiner Tochter im 21. Jahrhundert nicht mehr verklickern, dass sie in irgendeiner Institution nichts mehr werden kann, weil sie eine Frau ist.“ Frauen werden von Weiheämtern ausgeschlossen, weil der Verkünder ein Mann war?! Auf diese Logik muss man kommen. Was hätte Jesus dazu wohl gesagt?

Zur Frage der Frauenordination hatte Papst Johannes Paul II. festgestellt, die Kirche habe dazu keine Vollmacht des Herrn erhalten. Damit sind alle derartigen Bestrebungen von höchster Stelle abgebügelt worden. Denn in der Katholischen Kirche gilt das Dogma der päpstlichen Unfehlbarkeit. Auch dieses selbstgemachte Problemcredo verstört nicht nur Außenstehende, sondern viele engagierte Katholiken. Über das selbstzerstörerische Phlegma der Katholischen Kirche im Umgang mit Frauen machen sich Menschen weltweit lustig. Beispiel: Der Papst ist nach seiner ersten wirklichen Begegnung mit Gott tagelang nicht ansprechbar. Nachdem er schließlich wieder zu sich gefunden hat, ruft er die Kardinäle zusammen und offenbart ihnen: „Sie ist schwarz!“

Die Geschlechterdiskriminierung gehört
zum Wesen der Einrichtung

Dass Menschen aufgrund ihres Geschlechts, des weiblichen, in der Katholischen Kirche diskriminiert werden, gehört seit Jahrhunderten zum Wesen der Einrichtung. Die Kleriker, allesamt Männer, sind die einzig Mächtigen in der Kirche. Die getauften Frauen und Männer, die nicht zum Zirkel der Klerikalen zählen, dürfen kaum etwas entscheiden.

Die Kirche sollte nicht verwechselt werden mit einer Organisation mit demokratischem Aufbau, orientiert an Menschenrechten und organisatorisch gefestigt durch eine Gewaltenteilung. Die heilige Ordnung sieht keine Kontrolle der Führung vor. Das System bereitet der Willkür den Boden. Ein schwacher Papst, der nichts weiß oder nichts wissen will vom Machtmissbrauch, von Rechtsbrüchen und Verbrechen, kann im Namen seiner Kirche um die Welt reisen und den Segen verteilen an die Armen und die Gläubigen, aber er wird nicht mit amoralischen Kloaken in der eigenen Organisation aufräumen. Päpste sind in aller Regel ältere Männer, die weder die Dynamik noch die physische Kraft noch das Netzwerk noch die Autorität haben, die Machtstrukturen zu sprengen, die sich seit Jahrhunderten unter bizarren Normen und Riten verfestigt haben.

Johann Gottfried von Herder, ein Schüler von Immanuel Kant, meinte, dass Kulturen daran gemessen werden können, wie sie mit Frauen umgehen. Hier artikulieren sich Zivilität und christliche Werte. Wenn die Kirche selbst diesen Werten nicht nachkommt, verliert sie ihre moralische Autorität und damit Glaubwürdigkeit, letztlich Vertrauen. Und zwar nicht nur bei Frauen, sondern bei allen moralisch Interessierten.

Das liberalere katholische Deutschland ist in diesem Punkt offenbar etwas realitätsnäher und erdverbundener als sein Hauptquartier in Rom, wo die deutschen Bestrebungen mit dem Synodalen Weg schon beinahe als abtrünnige Aktivitäten wahrgenommen werden.

Moraltheologe Bogner: Die Kirche hat sich
zu einem „Biotop für Missbrauch“ entwickelt

Der Schweizer Moraltheologe Daniel Bogner hält den Kirchenkörper für krank, aber heilbar: „Verfasst nach dem Modell einer absolutistischen Monarchie, inszeniert nach den Gepflogenheiten einer ständischen Gesellschaft und geschmückt mit den Zutaten aus dem bunten Kosmos des höfischen Rituals tritt die Kirche heute auf wie aus einer anderen Zeitrechnung.“ Die Kirche predige nur über die Würde des Menschen: „Eine paradoxe Situation: Der Staat macht mit einem Anliegen des christlichen Glaubens ernst, die Kirche aber mag diesen Weg nicht mitgehen.“

Viele Menschen würden angezogen von den hochaktuellen Botschaften des christlichen Glaubens: Gerechtigkeit, Barmherzigkeit, Verheißung eines ewigen Lebens in Gott. Bogner schreibt in seinem Buch „Ihr macht uns die Kirche kaputt… doch wir lassen das nicht zu!“ von einer institutionellen Schizophrenie: „Im Blick auf den Personenstatus ihrer Mitglieder ist die Kirche geprägt von einer Kultur der Rechtlosigkeit. Eine verbindliche Gewaltenteilung, das Recht auf rechtliches Gehör, die Rechtsunterworfenheit des Souveräns, der Schutz unveräußerlicher Grundrechte innerhalb der Institution – all das kennt die Kirche nicht.“

Dass von einer solchen Kultur eine implizite Einladung zum Verstoß gegen die zwar ethisch-moralisch eingeforderten, aber eben rechtlich nicht garantierten Normen ausgeht, liegt auf der Hand. Die Zusammenhänge, so schreibt Bogner, die die Kirche zu einem „Biotop für Missbrauch“ gemacht haben, seien „Wurzelgrund für viele ihrer Blockaden in der Moderne“. Ein wichtiges Problem sieht er im altertümlichen Kirchenrecht, das über Jahrhunderte hinweg alle Entwicklungen in Theologie, Spiritualität und Seelsorge kaum mitvollzogen habe. Die Katholische Kirche, so meint er, spalte, täglich, zum Nachteil der einen Hälfte der Menschheit. Wer das Kirchenrecht kritisiere, kämpfe für das Sakrament der Einheit.

Durchsuchungen wie bei DFB, Deutscher Bank und VW
sind bei den Amtskirchen bislang nicht bekannt

Immer mehr Gläubige werden der Amtskirche den Rücken kehren und austreten, wenn sie das Gefühl haben, dass alte Machtzirkel die Institution benutzen, um ihre Pfründe zu sichern und die Ungerechtigkeiten als Teil des ansonsten seit Jahrhunderten funktionierenden patriarchalen Systems bestehen lassen wollen. Das Evangelium ist die Botschaft von der Gerechtigkeit. Aber gerecht geht es in der Katholischen Kirche nicht zu.

Vor dem Hintergrund des Missbrauchsskandals sind aufsehenerregende Durchsuchungen von Staatsanwaltschaften wie beim DFB, der Deutschen Bank oder Volkswagen bei Amtskirchen in Deutschland bislang nicht bekannt. Viele Bürger haben das Gefühl, die Kirchen würden juristisch weiter in Watte gepackt. Legen die Behörden bei den Kirchen andere Maßstäbe an als bei weltlichen Organisationen?

„Macht Licht an!“ fordern Frauen
und richten Taschenlampen auf Kirchenpforten

„Macht Licht an!“ forderten am 12. Dezember 2018 Zehntausende Mitglieder der Katholischen Frauengemeinschaft Deutschland. Sie standen mit Taschenlampen vor ihren Kirchen und richteten ihre Leuchtstahlen auf die Eingangstüren. Sie appellierten an ihre Bischöfe, endlich konsequent gegen die jahrzehntelange Vertuschung schlimmster Verbrechen in der Kirche vorzugehen.

Internationale Opfervereinigungen haben sich im Netzwerk Ending Clergy Abuse, ECA, zusammengeschlossen. Die amerikanische Internetplattform Bishop Accountability (Rechenschaft des Bischofs) sammelt zehntausende Dokumente über Missbrauchsfälle. Die Voices of Faith, eine internationale Organisation katholischer Frauen, setzt sich für Frauenrechte in der Katholischen Kirche ein und dokumentiert auch Misshandlungen von Nonnen. In Italien haben sich Tausende Missbrauchsopfer unter dem Titel L’abuso (der Missbrauch) zusammengeschlossen.

Kleinste Veränderungen fallen Rom so schwer
wie der deutschen Autoindustrie der Abschied vom Verbrenner

Der Papst ist gefragt. Denn Skandale sind immer Chefsache, der oberste Kopf muss sich durchsetzen und die Ursachen des Desasters beheben und für einen Neuanfang sorgen. Aber hat Rom überhaupt verstanden, dass sich die Weltkirche grundlegend ändern muss, um ihre Gläubigen, ihr Vertrauen und ihre Legitimität nicht komplett zu verlieren?

Es fehlt an einem glaubwürdigen Krisenmanagement, das einen grundlegenden Neuanfang mit radikalen Veränderungen voraussetzt. Damit erscheint auch dieser Papst überfordert. Er könnte solche Reformen vermutlich nicht durchsetzen, selbst wenn er das zutiefst für richtig und notwendig hielte.

Das ist leicht gesagt im Hinblick z.B. auf ein privates Unternehmen, eine Stiftung oder einen Verein. Aber für viele Verantwortliche in der Katholischen Kirche mit ihrer paternalistischen Kultur und der abgeschotteten Welt in der Welt, mit eigener Gerichtsbarkeit, einem Kadavergehorsam und Korpsgeist, für den sonst allenfalls manche Militäreinheiten bekannt sind, wirkt ein solch rigoristisches Umdenken und Neuausrichten offenbar wie Blasphemie. Schon kleinste Veränderungen fallen der Katholischen Kirche so schwer wie der deutschen Automobilindustrie der Abschied von Otto- und Dieselmotor. Der Priester Stefan Jürgens schreibt in seinem Buch „Ausgeheuchelt“, die Kirche müsse „zunächst das Einmaleins jeder modernen Gesellschaft lernen“.

Die Welt der Männer, der Macht und der Moral
war offenbar nie so, wie sie tat und schien

Die katholische Jugendorganisation Pontifex vermerkt auf ihre Website: „Der Zölibat ist eines der größten Opfer, die ein Mensch für Gott bringen kann. Gerade das Zeugnis der Priester, die diesen überzeugend leben ist daher für uns ein großes Geschenk und Vorbild im Glauben.“ Und weiter: „Jedes verzweifelte Kind, das missbraucht wurde, jeder enttäuschte Gläubige, der zu zweifeln beginnt, jeder treue und gute Priester, der zu Unrecht als Kinderschänder beschimpft wird, mit all diesen Opfern leidet Christus mit und sie alle tragen sein Kreuz mit. Und sie alle werden mit ihm auferstehen und ihn in seinem ganzen Glanz, seiner ganzen Stärke, seiner ganzen Schönheit erkennen. Auch wenn es so aussieht, als wäre die Kirche am Ende. Christus vergisst seine Braut nicht, er liebt sie, er rettet sie.“ Dann muss sich wohl nichts ändern…

Die katholischen Bischöfe konnten sich zu lange als Gesandte Christi begreifen, die ihre Bistümer nach Gutdünken leiten. Sie legen nicht öffentlich Rechenschaft ab über ihr Handeln. Transparenz? Fehlanzeige! Im Zuge des Missbrauchsskandals ist den Menschen bewusst geworden: Die Welt der Männer, der Macht und der vorgeblichen Moral war offenbar nie so, wie sie tat und schien. Die Katholische Kirche hat sich stets als sündenfreie Einrichtung dargestellt. Sie pflegte die Aura eines unfehlbaren und heiligen Werkes und seiner entsprechenden Unverwundbarkeit. Wie janusköpfig und unglaubwürdig müssen z.B. Kleriker wirken, die Homosexualität von der Kanzel herab ächten und gleichzeitig, ohne Talar, schwul in ihrem Brüderbund leben.

Die Katholische Kirche muss schmerzhaft lernen, sich zu demokratisieren. Die priesterliche Lebensform, die Sexualmoral, die Rechte von Frauen – alte Dogmen stehen zur Disposition. Die Sexualmoral und die Lebensform der Priester werden auch in anderen Ländern nicht mehr als zeitgemäß betrachtet. Die Bischöfe und Bistümer entfremden sich dadurch immer weiter vom Kirchenvolk. Der Synodale Weg wird also Änderungen bringen. Aber wären sie ohne die Missbrauchskatastrophe überhaupt in Erwägung gezogen worden? Der Handlungsdruck entstand erst durch die veröffentlichten Verbrechen aus einigen Jahrzehnten des komplizenhaften Schweigens und Vertuschens.

Viele Kleriker ziehen noch immer nicht in Betracht,
dass die Kriminalität im System wurzelt

Tabus und Normen haben die Katholische Kirche lange definiert, sie waren Distinktionssymbole. Ob sie aber tatsächlich Kerne des Katholizismus sein können, ist eine der interessanten Fragen, die die Kirche beantworten muss. Denn das Christentum pflegen die Protestanten auch. Die vorlutherische ritualisierte Strenge samt Beichte, Teufelsglauben und Rosenkranzgebeten kennen sie indes nicht.

Viele Kleriker ziehen noch immer nicht in Betracht, dass die Kriminalität im System wurzelt, wie die Missbrauchsstudie nahelegt. Sie wollen um alles in der Welt festhalten am Ideal der heiligen, frommen und makellosen Kirche – eine Organisation ohne Fehl und Tadel. Sie hoffen vergeblich, der epochale Glaubwürdigkeitsverlust könne vergehen wie fernes Marktgeschrei.

Bei Unternehmen, Verbänden, Stiftungen, Vereinen, Behörden oder Gebietskörperschaften vollzieht sich ein solcher Neubeginn mit der Auswechslung der Führungscrew, außerdem einem zutiefst demütigen öffentlichen Symbol des neuen verantwortlichen Teams, zeitgleich mit der Ausschaltung betroffener Filialen oder Abteilungen und schließlich dem aufrichtigen Versprechen auf einen grundlegenden Wandel. Dieses Versprechen wird durch neue Leitsätze, gleichsam eine neue Kultur gelebt. Die Ursachen für die Verfehlungen der Vergangenheit müssen grundstürzend beseitigt werden. Solches Krisenmanagement orientiert sich am Diktum aus dem Johannes-Evangelium: Nicht an ihren Worten, sondern an ihren Taten sollt Ihr sie erkennen!

Glaubwürdig wird die Kirche erst dann,
wenn sie mehr tut, als die Menschen erwarten

Weltliche Einrichtungen wissen: Wirklich glaubwürdig kann eine Organisation nach einem solchen jahrzehntelangen systemischen Versagen nur wieder werden, wenn sie erheblich mehr leistet, als man zunächst von ihr erwarten würde. Die Kirche agiert anders, nachlässiger, gehemmter; sie meint vielleicht, dieser einfache Grundsatz treffe auf sie nicht zu. Stattdessen tut sie bei jedem einzelnen kleinen Schritt so, als müsste sie sich den rechten Arm abhacken. Sie täuscht sich. Und deshalb sieht es aktuell so aus, als verabschiede sie sich als relevante gesellschaftliche Einrichtung, zumindest in Deutschland.

Unvorstellbarer Missbrauch von Macht, abgrundtiefe Sünde, Verrat am Glauben – damit geht eine kirchengeschichtliche Epoche zu Ende. Die alte Zeit ist vorbei. Die Kirche hat die Chance auf einen kompletten Neuanfang. Aber ihre Organisation, die entscheidenden Männer, sind dafür offenbar nicht bereit oder nicht in der Lage.

Gesellschaften bräuchten eine Kirche,
die als moralische Instanz gehört wird

Gerade in Zeiten der Globalisierung und der Digitalisierung, in denen sich viele Menschen vor den allzu schnellen Veränderungen fürchten und das Gefühl haben, bei technischen und sozialen Entwicklungen und Neuerungen nicht mehr mitzukommen, abgehängt zu sein, Komplexitäten nicht mehr zu durchschauen, bräuchten Gesellschaften mehr als zuvor eine Kirche, die allenthalten als moralische Instanz gehört wird und Korrekturen für mehr Gerechtigkeit anmahnt. Was sie nicht brauchen, ist ein klerikales Imperium, das sich in Teilen von den Gesetzen der weltlichen Öffentlichkeit verabschiedet hat. So etwas verdient kein Wohlwollen und kein Vertrauen und schon gar keine Liebe.

Grundsätzlich verlangt ein professionelles Krisenmanagement in einer solchen Situation von der Kirche ein professionelles Agieren in allen fünf Dimensionen des Krisenmanagements. Das sind: Gute Organisationsführung (Corporate Governance), Risiko- und Störfallprävention, Krisenhandeln, Krisenkommunikation und Störfall- und Krisenevaluation. Hier müsste die Kirche alle 30 Schritte des Krisenmanagements gehen, die die Deutsche Gesellschaft für Reputationsmanagement entwickelt hat. Die Öffentlichkeit erwartet zudem von der Katholischen Kirche, folgende Punkte umzusetzen:

  • Zunächst muss alles auf den Tisch, und sei es noch so schmerzhaft. Im Zuge dessen werden Verantwortlichkeiten geklärt. Menschen werden ihr Tun von weltlichen Gerichten beurteilen lassen. Natürlich müssen sich auch jene verantworten, die sich durch Zaudern, Wegducken und Vertuschen mitschuldig gemacht haben. Täter können keine Amtsträger bleiben, sie sind als Priester untragbar. Vertuschende Kleriker müssen zurücktreten, selbstverständlich auch dann, wenn sie Bischöfe sind. Gegen sie muss ebenfalls ermittelt werden.
  • Der Papst und seine Kardinäle sollten erklären und regeln, wie die Kirche mit Staatsanwaltschaften, Polizeiermittlungen umgeht, nämlich in rückhaltloser Offenheit und in letzter Konsequenz für das (weltliche) Recht. Interne Verdachtsmomente werden ohne Wenn und Aber an Ermittlungsbehörden weitergegeben. Die Kirche darf keinen eigenständigen Rechtsraum mehr für sich in Anspruch nehmen. Bei Missbrauch handelt es sich nicht um eine kirchenrechtliche Bagatelle, sondern um ein Verbrechen, dem Staatsanwaltschaften, Polizei und weltliche Gerichte nachzugehen haben, niemand sonst. Es darf nicht sein, dass Bistümer selbst entscheiden können, ob ihrer Meinung nach ein Missbrauchsfall strafrechtlich verjährt ist und deshalb die Herausgabe von Dokumenten an die Ermittlungsbehörden verweigern.
  • Dann, wenn alles strafrechtlich und moralisch bewertet ist, kann ein Neuanfang beginnen. Nicht vorher. Denn ein vorzeitiges Zurückkehren zur Normalität käme einer Relativierung der Strukturfehler gleich.
  • Wirkliche gelebte Demut und glaubwürdige Umkehr ist gefragt.
  • Dazu zählt eine Abkehr vom Unfehlbarkeitsanspruch. Die Kirche ist eine Organisation, die von Menschen geleitet und getragen wird. Menschen sind fehlerhaft, sie sündigen und verstoßen gegen Gesetze. Die Kirche erkennt die Wirklichkeit, sie macht sich angreifbar und bekennt sich zu ihrer Fehlbarkeit.

Die kirchliche Fehlbarkeit ist überall unbestritten –
ausgenommen in der Kirche selbst

Deshalb müsste sie sich verabschieden vom Sacrificium intellectus, dem Unterordnungszwang des eigenen Erkennens und Intellekts unter die kirchliche Lehrmeinung. Sie sollte, ja sie muss, streitbarer werden, nach innen wie nach außen. Ihre eigene Fehlbarkeit ist überall unbestritten, außer in der Kirche selbst. Hier könnte sie Lernfähigkeit dokumentieren, um Lebensfähigkeit zu erlangen. Das Sacrificium intellectus ist schon immer starker Tobak gewesen, der demokratischen Gepflogenheiten ebenso widerspricht wie dem Gebrauch von Vernunft und dem öffentlichen Diskurs über den richtigen Weg. Die Kirche würde sonach zurückkehren in die zivile Welt der Menschen. Das täte ihr ebenso gut wie die Abwendung von Reichtum, Macht und Prunk. Auch solche Signale würden ihrer Glaubwürdigkeit und mithin ihrem moralischen Einfluss auf die Sprünge helfen.

Manch ein Klerikaler mag sich trösten damit, dass die Evangelische Kirche ganz ähnliche Nöte leidet. Auch ihr laufen die Mitglieder davon, auch sie wird zunehmend als unzeitgemäß, als unpolitisch, als uninteressant begriffen. Nicht zuletzt haben auch protestantische Kirchenmänner sich an Kindern und Frauen vergangen. Die EKD dilettiert fast genauso würdelos mit der „Aufarbeitung“ ihrer größten Krise wie die Römisch-Katholische Kirche. Aber all das kann nicht den Rang einer Milderung erheben für die selbstgemachte Katastrophe.

Offenbar glauben manche mächtigen Männer,
sie könnten die Katastrophe aussitzen

Ein Mann, der schuldig gesprochen wurde der Pädophilie oder der sexuellen Nötigung oder gar der Vergewaltigung eines Kindes oder einer Frau, wird gesellschaftlich geächtet. Er muss sich nach Verbüßung seiner Strafe woanders ein neues Leben aufbauen oder eine neue Identität beantragen. Wenn Führungskräfte viele solcher Männer jahrzehntelang geduldet, teils gedeckt und weiterbeschäftigt haben, hat sich deren Organisation insoweit vieler Verbrechen mitschuldig gemacht. Entsprechend muss sie sich grundlegend läutern und ändern, um Vertrauen behutsam wieder aufbauen zu können. Kirchliche Würdenträger, die das ablehnen, verschlimmern die prekäre Lage.

Die Kirche krankt an der eigenen rücksichtslosen Strenge. Sie kann sich offenbar noch leisten, dass restaurative und vormoderne Machteliten mit Totschlagargumenten gegen gesellschaftliche Anpassungen agitieren. Die veränderungsunwilligen Bremser verweisen darauf, es habe auch in orthodoxen Kirchen und auch bei den Protestanten Missbrauchsfälle gegeben. Mit diesem Pseudoargument wird jegliche Verantwortung negiert.

Das Problem ist, dass manche Kirchenführer ganz offensichtlich weiter meinen, die Organisation könnte die seit zehn Jahren andauernde Katastrophe aussitzen. Sie verstehen nicht: Der Umgang mit dieser Krise kann für die Katholische Kirche eine existenzielle Dimension haben. Ohne glaubwürdigen Schutz der Menschen – und vor allem der Kinder – vor künftigem Missbrauch hinter den Kirchenmauern wird keine Religionsgemeinschaft überleben können. Das sollte den veränderungsunwilligen Klerikern klar sein. Ihre Kirche wird über die nächsten Jahrzehnte hinweg in der Randständigkeit versinken, wenn sie jetzt versäumt, die richtigen Signale zu setzen und grundlegende Änderungen nachzuweisen.

Kirchen können durchaus Heimat bieten. Aber nur, wenn sie glaubwürdig sind.

Herzliche Grüße, Ihr

Matthias Michael, Deutsche Gesellschaft für Reputationsmanagement