Viele Beschäftigte in Deutschland vermissen Vorgesetzte, die sich um sie als Menschen kümmern
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Im Rahmen eines Risikoaudits für eine öffentliche Verwaltung befragte ich eine Amtsleiterin nach ihrem Führungsverständnis, ihren Prinzipien als Sachgebietsleiterin, ihrer Kommunikation mit den ihr zugeordneten Teams. Sie sagte, sie habe kaum Zeit für die Führung der Beschäftigten, denn sie sei in erster Linie – ebenso wie ihre Untergebenen – eine Sachbearbeiterin, die jeden Tag versucht, alles abzuarbeiten, was auf ihrem Schreibtisch landet. Sie verstand sich als eine Art Edelsachbearbeiterin, als primus inter pares. Deshalb rufe sie ihre Teams auch nur höchstens einmal im Quartal zusammen. Das sei wegen der unterschiedlichen Arbeitszeiten und der verstreuten Standorte sowieso kaum möglich.
So fand sie Gründe für Defizite, wo sie als smarte Führungskraft hätte Veränderungen vornehmen und Herausforderungen lösen können. Möglicherweise wurde sie bis dahin nicht als gute Vorgesetzte wahrgenommen, sondern eher als eine Ignorantin oder empathielose Eigenbrötlerin auf einer herausgehobenen Stelle. Entsprechend verbesserungsbedürftig waren nämlich die Atmosphäre und die Leistungen in ihrem Amt – zu schweigen von der Fluktuation und den Schwierigkeiten bei der Stellenbesetzung.
Absurditäten werden nicht erkannt,
wenn sie lange gelebter Alltag sind
Die Dame, um die 60 Jahre alt, hatte mehr als 100 Menschen unter sich. Alles, was sie beschrieb, fand sie normal. Vermutlich kannte sie es nicht anders, weil sie nie erlebt hatte, was gute Führung ausmacht. Absurditäten werden mitunter nicht mehr als solche identifiziert, kritisiert und verändert, wenn sie lange gelebter Alltag sind.
Jedenfalls kümmerte sich die Führungsbeamtin augenscheinlich nicht um die Belange, Wünsche und Sorgen der Frauen und Männer, die für sie und ihre Behörde arbeiten. Aus Zeitnot – das hören wir immer wieder. In Seminaren und Trainings sprechen wir über ein Verständnis von zeitgemäßer Führung. Was erwarten die Beschäftigten? Welche Art von Führung ist die effektivste? Wie sollte man sich in welcher Situation verhalten? Was müsste sich ändern an der jeweiligen Kultur, der Attitüde, dem Umgang mit den Beschäftigten beim Arbeitgeber?
Einvernehmen erzielen wir stets schnell mit der Aussage: Menschenführung kostet Zeit. Wer rund acht Dutzend Frauen und Männer motivieren, lotsen, unterstützen, fördern und schützen soll, benötigt viel davon. Wegducken ist keine sinnvolle Strategie. Arbeitskräfte wollen gesehen, gefragt, gelobt, informiert und respektvoll behandelt werden – sonst werden sie sich nicht identifizieren und unter ihren Möglichkeiten bleiben oder den Arbeitgeber bzw. den Vorgesetzten verlassen.
Die Stimmung sei gut,
schließlich käme kaum jemand mit Klagen
Die Stimmung unter ihren Beschäftigten sei aber gut, deklamierte die Amtsleiterin, schließlich käme kaum jemand mit irgendwelchen Klagen zu ihr, obwohl ihre Bürotür doch jedem offenstehe. Dass diese spezielle Interpretation des Betriebsklimas bei anderen Kopfschütteln auslöst, kam ihr nicht in den Sinn. Warum die Fluktuation weit überdurchschnittlich sei? Warum mehrere Stellen schon etliche Monate lang nicht besetzt werden konnten? Warum sie nicht viel wisse über die Besonderheiten und die Leidenschaften einzelner Teammitglieder? Dafür gebe es viele Gründe jenseits ihrer Möglichkeiten…
Immerhin wollte sie am Ende diesen Zustand nicht als Kismet hinnehmen, sondern kam zur Einsicht, ihre Arbeitszeit künftig anders nutzen zu wollen, sich viel intensiver um die Teams und um jeden Einzelnen zu kümmern. Im Gegenzug wollte sie bestimmte Aufgaben und Projekte abgeben bzw. delegieren.
In der Wirtschaft heißt es manchmal: culture eats strategy for breakfast. Wie wichtig ein freundschaftliches Miteinander und eine wertschätzende Atmosphäre am Arbeitsplatz sind, wird von Beschäftigten allenthalben hervorgehoben. Internationale Studien belegen, diese scheinbaren Hygienefaktoren steigern in modernen Demokratien die Effektivität, die Leistungsqualität und die Produktivität jeder Organisation. Sie sind also nicht nur Hygienefaktoren, sondern Voraussetzungen für Erfolge. Allein: Es fehlt allzu oft bei Führungsspitzen von Unternehmen, öffentlichen Verwaltungen und anderen Einrichtungen hierzulande die Einsicht oder der Mut oder die Kompetenz zum Verwirklichen der Erkenntnisse.
Aus meiner mehr als 30-jährigen Berufs- und Beratungserfahrung gibt es in den meisten deutschen Verwaltungen solche gleichsam führungsgeschwächten Abteilungen und Sachgebiete. Aber auch in vielen Konzernen, Mittelstandsunternehmen und Verbänden gehen Disziplinarvorgesetzte ähnlich uninspiriert mit ihren Untergebenen um.
Das Ziel: ohne Angst selbstständig,
selbstbewusst und selbstwirksam arbeiten zu können
Was fehlt? Zunächst das Verständnis für den Nutzen und die Ziele einer Führung ad hominem. Die Aufgabe der Amtsleiterin wäre es, ihre Beschäftigten dazu zu verführen, sich mit Herz, Hand und Hirn einzubringen bzw. selbstständig, selbstbewusst und selbstwirksam zu arbeiten. Dafür sollten sie angstfrei und gut gelaunt zur Arbeit kommen und täglich die wertschätzende, freundliche und integre Kultur genießen. So etwas können Führungskräfte lernen.
Aber neben der Bringschuld gibt es eine Holschuld. Die Beschäftigten weisen ihre Führungskräfte idealerweise auf Schwächen und Mängel hin. Die Kultur kann auf diese Weise sanft von unten verbessert werden.
In der Zeit des Fachkräftemangels und des demografischen Wandels tun Verwaltungen und der Öffentliche Dienst gut daran, ihre Reputation zu verbessern. Das funktioniert dann, wenn möglichst viele Beschäftigte Fans ihres Arbeitgebers, seiner Leistungen und seiner Kultur sind. Fans gehen von sich aus ins Stadion. Sie lieben das. Sie fühlen sich geborgen in der Gruppe. Und sie sind gern in der Nähe ihrer Vorbilder.
Herzliche Grüße
Matthias Michael