Auch deutsche Konzerne könnten entdecken, dass es im Zuge der Digitalisierung bedeutsam für die Demokratie wäre, Qualitätspublikationen zu unterstützen oder zu übernehmen

Die chinesische Alibaba Group hat 2015 für umgerechnet 242 Millionen Euro die renommierte South China Morning Post übernommen. Die Tageszeitung aus Hongkong gilt als die beste und angesehenste englischsprachige in Südostasien. Trotz ihrer verhältnismäßig geringen Auflage von 120.000 Druckexemplaren wird sie in Asien stark digital gelesen und kann auch weltweit online rezipiert werden. Denn eine der ersten Veränderungen von Alibaba nach der Übernahme war die Streichung des Bezahlmodells für das Online-Abonnement. Jeder kann die South China Morning Post jetzt gratis im Netz lesen (scmp.com).

Der Eigentümerwechsel fand in den deutschen Medien kaum Beachtung, obwohl er ein gesellschaftlich wichtiges Zeichen setzte. „Kauf mit rätselhaften Motiven“ titelte tagesschau.de lediglich. Dabei sind die Motive alles andere als rätselhaft. Zugegeben: Jack Ma, Gründer und langjähriger CEO von Alibaba, hat nicht verständlich erklärt, warum er die angesehene Tageszeitung in seinen Konzern integriert hat. Er hat auch keine Strategie verkündet, wie er direkt mit der Vermarktung der Zeitung Profite erwirtschaften will. Vermutlich ist das überhaupt nicht sein Ziel. Offenbar hat er etwas anderes im Sinn und seine Ziele mit der Zeitung sind indirekter.

Zwei Jahre zuvor, im August 2013, hatte Amazon-Gründer Jeff Bezos für 250 Millionen US-Dollar die traditionsreiche und hochgeschätzte Washington Post erworben. Nach der New York Times gilt sie als die zweitbeste Zeitung in den USA. Die Washington Post erreicht eine enorme Reichweite überall in den USA. Denn Bezos hat ein Partnerprogramm entworfen, das es Abonnenten von 270 anderen Zeitungen erlaubt, die Online-Ausgabe der Post gratis zu lesen.

Warum interessieren sich Firmen für Zeitungen?
Weil ihnen der öffentliche Diskurs wichtig ist

Beide Unternehmer, Bezos und Ma, sind milliardenschwere Kaufleute. Beide gelten als Vordenker. Beide haben ihre Plattformen geschickt zu monopolartigen Kraken und zu Category-Killern für diverse Handelssparten entwickelt. Sie können mittelfristig mit dem Erwerb der Zeitungen möglicherweise keine Gewinne erzielen. Denn Zeitungen haben das Gros ihrer Erträge ehedem aus dem Verkauf von Anzeigen erzielt. Die Anzeigenkunden indes inserieren heute vor allem im Netz – seien es Gebrauchtwagenanzeigen, Bekanntschaftsanzeigen, Stellenanzeigen, Kleinanzeigen, Immobilienanzeigen oder Todesanzeigen. Deshalb haben viele Zeitungsverleger neue Geschäftsfelder im Internet entwickelt und bieten dort Informations- und Anzeigenportale an. Der Branche der Tageszeitungen geht es zunehmend schlechter, sofern die Verlage keine anderen Geschäftszweige unterhalten. Allenthalben wird über das angeblich absehbare Ende der gedruckten Gazetten orakelt. Die Verkaufspreise der Druckmedien steigen, die Zahl der Abonnenten sinkt, die Verleger verkleinern ihre Redaktionen, entlassen altgediente Mitarbeitende, neue Stellen werden meist befristet. Die Autorinnen und Autoren sind verunsichert, sie müssen neue Aufgaben übernehmen, Kurzversionen erstellen, beständig Online-Texte aktualisieren, Rechte für Fotos klären, Videos produzieren, Fotostrecken und Gewinnspiele entwickeln, Klickzahlen und Statistiken über Artikelaufrufe vergleichen und Vieles mehr. Die einst so stolzen Presseleute jammern und klagen über das große Verblöden und Sterben im Journalismus. Und die Zahl der publizistischen Einheiten bei den Qualitätsmedien sinkt seit Jahren in westlichen Industrieländern.

Auch Bernard Arnault befindet sich auf Medien-Einkaufstour. Der Franzose führt den Luxusmarken-Konzern LVMH (Louis Vuitton Moet Hennessy) und gilt mit einem Vermögen von etwa 230 Milliarden Dollar als reichster Europäer. Zunächst hatte er die Tageszeitung Le Parisien, die Finanzzeitung Les Echos, das Wochenmagazin Investir und den Hörfunksender Radio Classique übernommen, 2024 dann auch das größte französische Druckmagazin Paris Match. Er bündelt damit eine enorme Medienmacht, nutzt Synergien seiner Publikationen und kann auf diese Weise auch seine mehr als 70 Marken medial inszenieren.

Sind Bezos, Ma und Arnault also Retter des Qualitätsjournalismus? Haben sie ihre Zeitungen und Magazine aus Sentimentalität gekauft, weil ihnen die freie und hochwertige Information der Menschen am Herzen liegt? Vermutlich nicht.

Werbung ist unglaubwürdig;
smarte Manager wissen das

Alle drei haben verstanden, dass sich durch die Digitalisierung die Welt grundlegend gewandelt hat. Sie haben erkannt: Werbung für Produkte, Leistungen und Marken funktioniert nicht mehr wie früher. Werbung lügt, sie darf das. Und die Menschen wissen es. Werbung ist deshalb à priori unglaubwürdig. Sie funktioniert trotzdem, wenn sie eine emotionale Geschichte erzählt, Sehnsüchte weckt oder witzig ist, jedenfalls eine Pointe bietet und menschliche Werte anspricht. Dann können sich viele Bürger mit einer entsprechenden Kampagne identifizieren. Viel glaubwürdiger als Werbung aber wirken redaktionelle Inhalte und Veröffentlichungen in angesehenen Medien. Der für die Demokratie konstitutive Journalismus eines Landes bestimmt die Themen, über die die Menschen nachdenken und sich informieren. Diese Agenda-Setting-Funktion ist das Privileg der Massenmedien.

Das hatte auch der Red-Bull-Gründer Dietrich Mateschitz erfasst. Er hat 2009 einen Fernsehsender namens Servus-TV und später ein Druckmagazin namens Servus in Stadt und Land gegründet. Inzwischen gibt das Unternehmen auch Kochbücher, Reiseführer und ein Kindermagazin heraus und vermarktet in seinem Online-Kaufhaus Waren aus den Bereichen Wohnen, Freizeit, Geschenke, Garten, Küche. So hat Mateschitz bis zu seinem Tod wirkmächtig die Themen gesetzt, die seinem Unternehmen eine Atmosphäre bieten, in der sich erfolgreich wirtschaften lässt. Den Zuschauenden, die auf Servus-TV Magazine, Dokumentationen und Serien ansehen, sind die Eigentumsverhältnisse wohl ebenso egal wie die Frage, ob ein Zeitungsverleger oder ein Limonadenmann die Bücher herausgibt und den Onlinehandel betreibt. Marken werden Medien, das hat Mateschitz vorgemacht. Das Credo von Bezos, Ma und Arnault lautet dagegen eher: Marken kaufen Medien.

Die Redaktionen der führenden Organe definieren,
welche Themen die gesellschaftliche Diskussion beherrschen

In Deutschland ist man noch nicht so weit. Hier sind die Firmen zurückhaltend mit einer Unternehmen-Medien-Konvergenz und laden sich stattdessen vielfach noch Influencerinnen und Influencer ein, die ihnen dabei helfen sollen, online ein möglichst großes Publikum anzusprechen und fortdauernd zu fesseln.

Offline schaffen das noch immer die Nachrichtenagenturen im Verbund mit der kränkelnden Qualitätspresse. Beide gemeinsam bestimmen maßgeblich, worüber viele andere Medien berichten. Denn selbst die Fernseh- und Hörfunkredakteure der täglichen Morgensendungen lesen als erstes die Online-Zusammenfassungen bzw. E-Paper der wenigen überregionalen Zeitungen für den neuen Tag. Hinzu kommen natürlich die News-Feeds der Bild- und Textagenturen und der Sendergruppen. Kurzum: Die Redaktionen der führenden Tageszeitungen definieren tonangebend, welche Themen die gesellschaftliche Diskussion bestimmen. Hinzu kommen etliche Online-Nachrichtenportale, die betrieben werden von Telekommunikationsanbietern, von traditionellen Medienunternehmen, von öffentlich-rechtlichen Sedeanstalten oder von Mailadressen- und Webhosting-Unternehmen. Auf „Social-Media“-Kanälen kolportieren Politiker, Wissenschaftlerinnen, Wirtschaftführer, Influencerinnen, Stars und Sternchen kurz darauf ihre Meinungen und Erfahrungen zu diesen Themen, so dass die gesamte Öffentlichkeit darüber diskutiert und nachdenkt.

Die Familie Quandt könnte die Tageszeitung Welt übernehnen –
oder die Familien Schwarz und Albrecht buhlen um das Handelsblatt

Wer den Einfluss mancher Qualitätsmedien auf den öffentlichen Diskurs erkennt und sich diesen Zugang sichert – sei es direkt oder indirekt –, der bestimmt also ein Stückweit die gesellschaftliche Diskussion. Bezos und Ma werden ihrem Ruf als Visionäre bei der Ansprache des Massenpublikums gerecht und haben entsprechend gehandelt.

Auch jeder deutsche Konzern, der jährlich Milliardengewinne verbucht und einen Zugang zum öffentlichen Diskurs schätzt, muss eine langfristige Strategie für seine Märkte, seine Produkte und sein Handeln entwickeln. Dax-Unternehmen oder Industriellenfamilien könnten renommierte überregionale Zeitungen durch Übernahmen der Mehrheitsanteile in deren Existenzkampf „retten“ und sich allein durch den Bestand des jeweiligen Mediums einen Einfluss auf die gesellschaftliche Entwicklung in Deutschland sichern. Wenn sie, wie Bezos, heilig versprechen, die Freiheit und Unabhängigkeit der Redaktion zu achten, muss das nicht die schlechteste Lösung sein. Auch Verleger haben mit ihren Tendenzbetrieben nicht selten politische Präferenzen offengelegt und dies in ihren Statuten festgehalten; die bekanntesten sind die Unternehmensgrundsätze des Axel-Springer-Verlags, die dort lange zu jedem Anstellungsvertrag gehört haben.

So wie man in der Bildzeitung keinen kritischen Beitrag über die Springer SE erwarten kann, so wird man in der Washington Post gewiss keinen Verriss des Geschäftsgebarens von Amazon lesen. Wobei Bezos und Ma keine Einflussnahme unterstellt werden soll. Vielleicht nehmen manche Journalistinnen und Journalisten vorauseilend Rücksicht auf ihre Arbeitgeber, deren Mütterkonzerne oder auf wichtige Anzeigenkunden. Damit können die mediennutzenden Bürger leben, denn die Ausgewogenheit in der Berichterstattung wird gewährleistet durch die Außenpluralität bzw. die Vielfalt der Medien, jedenfalls in den westlichen Industrieländern.

Qualitätsmedien gegen den Hass und die Hetze
auf Verachtungs-, Indoktrinations- und Propaganda-Plattformen

Warum also sollte die Familie Quandt (BMW) sich nicht überlegen, dem Springer-Konzern ein Angebot für die Zeitung Welt zu unterbreiten? Die Familien Schwarz (Lidl/Kaufland) und Albrecht (Aldi) könnten sich für das Handelsblatt interessieren. Die Familien Porsche und Piech (Volkswagen) mögen vielleicht irgendwann einmal die Mehrheit an der Süddeutschen Zeitung erwerben… All dies wäre denkbar, vielleicht sogar wünschenswert. Auf diese Weise jedenfalls würden Qualitätszeitungen langfristig wirtschaftlich gesichert werden, was wiederum wichtig wäre für den gesellschaftlichen Diskurs in Deutschland und damit auch für die Zivilisierung der Auseinandersetzung hierzulande. Denn seit etwa zwei Jahrzehnten wird die öffentliche Erörterung zunehmend beeinflusst durch Hass, Hetze und sonstige Heimsuchungen auf riesigen kommerziellen Verachtungs-, Indoktrinations- und Propaganda-Plattformen, die noch immer als „soziale Medien“ verharmlost werden.

Prof. Dr. Matthias Michael berät Organisationen in Fragen des Ansehens und Vertrauens, der Kommunikation und des Krisenmanagements und widmet sich in einem Kapitel seines Buchs Geliebte Verblödung auch der Entwicklung der Zeitungen in Deutschland.