Die alten Argumentationsmuster, Attitüden, Klientel-Rücksichtnahmen und Kommunikationsstrategien verfangen nicht bei einer so anders geprägten jungen Generation
Nach meinem jüngsten Blogbeitrag (Das Ende der naiven Moderne: https://dgfr.online/das-ende-der-naiven-moderne/) haben mich etliche Leser gebeten, die sieben genannten Fehler etwas ausführlicher zu erläutern, die die GroKo-Parteien nach meiner Analyse beim Umgang mit der Jugend begangen haben. Das will ich nachfolgend gern tun.
Der Soziologe Niklas Luhmann hat die Systemtheorie entwickelt. Sie besagt, ganz grob, dass es in einer Gesellschaft Systeme gibt, die sich in „systemspezifischen Umwelten“ gegeneinander abgrenzen, eine eigene Sprache sprechen und mit anderen Systemen mehr oder minder gelungen in Dialog treten. Solche Systeme können z.B. sein: die Justiz, die Politik, die Wirtschaft, die Kunst, die Religion, die Medizin, der Sport. Die einen Systeme erreichen besser die Öffentlichkeit, die anderen können das weniger gut.
Die Europawahl, die monatelangen Jugendproteste der FridaysForFuture-Bewegung, die herben Verluste der GroKo-Parteien auch bei den jüngsten Landtagswahlen und die merkwürdigen Einlassungen einiger ihrer Repräsentanten bestätigen einmal mehr Luhmanns Ansatz. Und die Diagnose: Diese drei etablierten Parteien kommunizieren gerade nicht sonderlich wirkungsstark. Ihre Rezepte wirken wie von vorgestern. Sie haben die Jugend verloren.
Union und Sozialdemokraten verstehen die Schüler nicht und finden keine Form des konsensuellen Dialogs mit ihnen. Obendrein haben sie versäumt, sich mit den Kommunikationsinstrumenten und -stilen der nächsten Generationen zu befassen.
Stattdessen verharren CDU, CSU und SPD in alten Argumentations- und Verhaltensmustern, die früher wirkten und mit denen sich viele Ältere vielleicht schon abgefunden haben.
Ganz Deutschland diskutiert über die Zerstörung und Selbstzerstörung der Unionsparteien und der Sozialdemokraten, oder zumindest über die Sinnhaftigkeit des Anspruchs, eine „Volkspartei“ sein zu wollen. Die SPD hat es binnen weniger Jahre geschafft, ihre bundesweiten Wahlergebnisse zu halbieren. In Sachsen hat sie zuletzt ganze 8,6 Prozent Zustimmung erreicht.
Die Union muss Ähnliches befürchten, wenn sie sich die desaströse Altersverteilung ihrer Wähler bei der Europawahl 2019 ansieht. Danach nimmt ihre Zustimmung bei den Wählern mit jedem Altersdezennium zwischen 70 und 18 Jahren dramatisch ab. Die Grünen haben im Spektrum der Wähler zwischen 18 und 60 Jahren bundesweit bereits besser abgeschnitten als die CDU.
Was ist passiert?
Nachfolgend der Versuch einer Analyse von sieben Verständnis-, Verhaltens- und Argumentationsmustern, die die etablierten Parteien prüfen bzw. meiden sollten.
1. Inhaltliches Muster: „Wir brauchen einen Interessenausgleich. Keine Maßnahme darf Arbeitsplätze kosten.“
Allzu oft sagen Politiker, sie seien ja grundsätzlich und eigentlich auch für Umwelt- und Ressourcenschutz – für Nachhaltigkeit, Biodiversität, Plastikstopp und CO2-Begrenzung.
ABER: Es müsse immer einen Interessenausgleich geben mit den betroffenen Menschen. Niemand dürfe also belastet werden. Irgendjemand hat den GroKo-Partein offenbar empfohlen, die Begriffe „Verbot“ und „Steuer“ aus ihrem aktiven Vokabular zu streichen. Die Bürger sollten sonach nie das Gefühl bekommen, selbst etwas gegen eine Krise tun zu müssen. Die Politik, so diese Argumentation, solle stets den Eindruck vermitteln, der Einzelne werde nicht belastet werden, es werde jedem immer besser gehen, so lange nur die GroKo regiere. Beispiel aus dem aktuellen „Klimapaket“ der Bundesregierung: Das Tanken von Benzin und Diesel soll zunächst ganze 3 Cent pro Liter teurer werden. Also nicht wirklich spürbar. Ab 2021. Dafür sollen Vielfahrer durch eine Erhöhung der steuerlich absetzbaren Pendlerpauschale von 30 auf 35 Cent pro Kilometer wieder entlastet werden. Diese Politik im Sinne der Echternacher Springprozession (zwei Schritte vor, einer zurück) illustrierte Wirtschaftsminister Peter Altmaier Anfang Mai 2019 in einer ZDF-Talkshow, als er vor möglichen Gelbwestenprotesten in Deutschland warnte, sofern eine CO2-Steuer eingeführt werden würde: „Wir dürfen weder die Wirtschaft noch die Bürger und Bürgerinnen höher belasten. Es ist falsch, die CO2-Steuer übers Knie zu brechen.“
Was kommt hier beim jugendlichen Zuhörer oder Zuschauer an? Die Partei bzw. Regierung nimmt Rücksicht auf wenige Menschen und unterlässt wider besseres Wissen Steuerungsmaßnahmen, die allen zugutekämen. Sie hat eine Sprachregelung fürs Zögern parat und weigert sich, den Wählern und Bürgern etwas zuzumuten, sie will niemandem auf die Füße treten. Alles soll beim Alten bleiben. Das hört sich an, als könne man den Klimawandel aussitzen.
Hier offenbart sich, dass die GroKo-Parteien die Priorität der Jugend nicht erkannt oder zumindest nicht als Gefahr für sich selbst wahrgenommen haben.
Die Diskussionen, die Proteste und die Datenanalyse der Wahlbefragungen machen deutlich: Die Jugend hat die regierende Politik weitgehend abgeschrieben. Die GroKo-Parteien sind für die unter 30-Jährigen ähnlich attraktiv wie der aus dem Pariser Weltklimapakt ausgestiegene US-Präsident Trump und ein Besuch beim Zahnarzt. Beispiel: die von der Bundesregierung eingesetzte Kommission und ihr Kohlekompromiss. Danach wird Deutschland noch bis 2038 in einigen Tagebaugebieten am Abbau und an der Verstromung von Kohle festhalten, was nicht kompatibel ist mit dem Pariser Klimaabkommen. Diese Kraftwerke sind formidable Luftschadstoff-Schleudern und Symbole einer ignoranten Kohlendioxid-Wirtschaft.
Aber es geht den Regierenden offenbar um die Arbeitsplätze der Kohle-Industrie in den Abbaugebieten und vorgeblich auch um die Versorgungssicherheit. Der „Strukturwandel“ müsse über die Jahre hinweg begleitet werden. Abgesehen davon, so heißt es, könne Deutschland nicht gleichzeitig aus der Atomindustrie und dem Kohleabbau aussteigen. Wer auf diese Weise argumentiert, tut so, als könne Wohlstand in bestimmten Regionen ausschließlich durch den Erhalt von Arbeitsplätzen in veralteten, klimaschädigenden und nicht zukunftsfähigen Industriezweigen erhalten werden. Entsprechend vorgestrig und phantasielos kommen die Kohle-Apologeten bei der Jugend an.
Die FridaysForFuture-Bewegung und viele Umweltschutz-Initiativen drängen darauf, dass nach Jahrzehnten der Verschwendung, Überproduktion, Vermüllung und des ungebremsten, weil kaum regulierten CO2-Ausstoßes ohne Bepreisung und Inrechnungstellung der Ewigkeitskosten grundlegend anders gedacht und gehandelt wird.
Das Arbeitsplatzargument des Kohleabbaus in Deutschland können sie leicht aus den Angeln heben. Denn mit den Milliarden der Strukturförderung lassen sich neue Firmen ansiedeln und Arbeitsplätze entwickeln in zukunftsfähigen Branchen und Energiegewinnungsmethoden. Mit einer apokalyptischen Note schreien die Jugendlichen den Politikern entgegen: „Auf einem toten Planeten gibt es keine Arbeitsplätze mehr!“
2. Totschlagargument: „Wir brauchen internationale Lösungen.“
Auch die Rhetorik von Sozial- und Christdemokraten, man strebe europäische oder weltweite Lösungen an, weil man mit nationalen Maßnahmen dem Klima kaum durchgreifend helfen könne, verfängt nicht mehr. Solche Argumentationslinien werden als Ausrede fürs zu lange nationale Nichtstun gegeißelt.
Damit schießt sich die GroKo selbst ins Knie, was sie überhaupt nicht nötig hätte. Denn selbstverständlich schaut die Welt auf Deutschland, wenn diese viertgrößte Industrienation in eine umwelt- und ressourcenschonende Richtung reist, die die anderen noch nicht eingeschlagen haben. Viele Nationen können aus den Erfahrungen und Ergebnissen hierzulande lernen.
Beim Atomausstieg beispielsweise macht Deutschland vor, dass eine energieintensive Industrienation komplett aus der zerstörerischen, unsicheren und über Jahrtausende gefährlich strahlenden Form der Energiegewinnung und -nutzung aussteigen kann. Dass es in kürzester Zeit seinen Energiemix umstellen und mit staatlicher Lenkungswirkung solide auf regenerierbare Energiequellen setzen kann. Hier sind riesige Erfolge erzielt worden, die durch das Verlegen von Erdkabeln von Nord- nach Süddeutschland abgesichert werden sollten. Auch solche unbequemen Wahrheiten könnten die Fernsehpolitiker und ihre Parteien wirkungsstark kommunizieren und durchsetzen.
Die deutsche Energiewende ist ein enormer Kraftakt, der offenbar mit den Jahren immer besser gelingt und anderen Staaten als Benchmark dienen kann. Aber das Jahrhundertprojekt hätte mit einer Blut-Schweiß-und-Tränen-Rede erklärt werden müssen, so dass die Bürger sich damit identifiziert und für das gemeinsame Ziel auch Entbehrungen in Kauf genommen hätten. Die regierende Politik hat nicht umfassend und verständlich über die Maßnahmen, die Kosten, die Entbehrungen und wahrscheinlichen Folgen informiert.
3. Formales Muster: Verächtlichmachung von Kritikern
FDP-Chef Christian Lindner hat in einer TV-Talkshow eine herablassende Ich-weiß-es-besser-Attitüde zu Markte getragen, als er meinte, die FridaysForFuture-Demonstranten sollten doch lieber zur Schule gehen und so komplexe Fragen wie den Klimaschutz den erwachsenen Experten überlassen. Geflissentlich übersah er dabei, dass sich die Kids gerade als Sprachrohr und Speerspitze verstehen für die mehr als 26.000 deutschsprachigen Wissenschaftler, die seit Jahren vor den Folgen des Klimawandels warnen, aber politisch in Deutschland kaum durchdringen.
Für diese abfällige Bemerkung wurde Lindner im Netz mit einem Shitstorm übergossen. Seither hat er seine Diktion gegenüber den jungen Leuten geändert. Er hat wohl verstanden, dass die Demonstranten in den nächsten Jahren wählen können und dass sie auch Eltern und Großeltern haben, deren Stimmabgabe sie beeinflussen. Abwertung von Kritik, die nicht direkt aus dem politischen Parteiensystem kommt, kennt man auch von anderen Parteien. Sie alle können erkennen, dass ein arroganter Habitus nicht nur von der Jugend, sondern auch von der Öffentlichkeit fein detektiert und entsprechend kommentiert wird.
4. Mut- und Ideenlosigkeit: Parteien kommunizieren – im Gegensatz zu Pressure Groups und YouTubern – nicht mit kampagnenfähigen Videos, die sich viral verbreiten.
In der Form der Kommunikation gibt es eine Gemeinsamkeit zwischen den etablierten politischen Parteien und der mittelständischen Wirtschaft hierzulande. Beide haben auf den Paradigmenwechsel bzw. den Strukturwandel in der Herstellung von Öffentlichkeit nicht angemessen reagiert. Beide verschmähen noch die Chancen, die sie durch den Einsatz selbst entwickelter Videokampagnen heute haben.
So kommunizieren die Machteliten der Wirtschaft a priori über Texte. Die abstrakten Zeichen der Schriftsätze, die der Adressat erst lesend entschlüsseln muss, stellen für viele junge Leute eine Lust-Hürde dar. Sie konsumieren lieber ironische, bildstarke, leicht verständliche und inhaltsreiche Videos, in denen interessante Menschen vorkommen. Vielleicht noch angereichert mit Witz und (Selbst)Ironie und vor allem mit einer gekonnt erzählten Geschichte, die moralische Werte transportiert, emotional berührt und in der das Gute gewinnt. Auf solche identitätsstiftenden Stories fahren fast alle Menschen ab – und besonders die Digital Natives.
Edeka hat das mal gemacht mit einem Video, in dem ein Opa seine Todesanzeige aufgibt (https://www.youtube.com/watch?v=V6-0kYhqoRo&t=12s), damit er an Weihnachten seine ganze Familie sehen kann. Und Hornbach hat einen weltweiten Erfolg mit dem Video Gothic Girl erzielt. Darin kann ein Außenseiter-Kind auf die Liebe und Loyalität seines Vaters zählen (https://www.youtube.com/watch?v=Cmg8ghXhAt8). Die Politik in Deutschland hat aber entweder keinen Mut oder keine Ideen, mit solchen Kampagnen große Zielgruppen zu erreichen. Für ihre täglichen kommunikativen quick wins nutzen die Parteien die Auftritte ihres dafür geschulten Personals, z.B. bei Aufsagern vor Mikrofonen und in den abendlichen Talkshows des Fernsehens.
Kurzum: Die Parteien sollten sich beschäftigen mit Storytelling, mit der Entwicklung von viralen Kampagnen und mit der Dramaturgie von Bewegtbildinhalten. Diese Stories können wahr sein oder (erkennbar) erfunden. Denn ihre Partei- bzw. Personality-Videos wirken müde, einfallslos und satt: kein Witz, kein Charme, keine berührende Geschichte. Nur Hunde zu streicheln oder Quietsche-Entchen zu drücken oder mit dem Elektroroller vorzufahren, genügt nicht.
5. Digitales Unverständnis: Die etablierten politischen Organisationen haben die Bedeutung und die Kommunikationsmuster des Internets nicht verinnerlicht.
Das Internet ist nicht das vierte Massenmedium. Sondern es ist das Metamedium, über das die drei klassischen Medien – Druckmedien, Fernsehen, Radio – zunehmend rezipiert werden. Wer im Netz nicht vorkommt, ist nicht wichtig. Während die älteren Generationen abends vor dem TV-Screen sitzen, sind die Jüngeren im Netz unterwegs.
Wobei die Algorithmen der sozialen Medien anders funktionieren als der öffentlich-rechtliche Rundfunk. Bei YouTube, Facebook, Instagram und Co. wird den Nutzern zuoberst angeboten, was am meisten geteilt, geklickt, gelikt und verlinkt worden ist. Da steht das Rezo-Video „Zerstörung der CDU“ bei vielen Usern seit Wochen vorn. Es wurde inzwischen mehr als 16 Millionen Mal geklickt. Weil YouTube zu Google gehört, treibt auch der Suchmaschinen-Quasi-Monopolist den Hype um das Video und die Reaktionen darauf voran.
Die CDU meint aber, man dürfe bei Kritik aus dem Netz nicht die gleichen Mittel verwenden wie die Jugendlichen. Das Netz sei ein schnelllebiges Medium. Die Union sollte sich nicht auf dieses Niveau begeben, sondern sie müsse ausführlich und argumentativ antworten. Das war die Ansage nach der Veröffentlichung des aufsehenerregenden Rezo-Videos.
Dies muss als Fehlschluss der politisch Verantwortlichen gedeutet werden, die das Momentum der größten Aufmerksamkeit für ihre Eigenwerbung nicht nutzen konnten. Vor allem aber wirkt ein Video, in dem jemand mit seinem Gesicht und seinem Namen für eine Sache geradesteht, persönlicher und deshalb authentischer als ein elfseitiger Rechtfertigungs-PDF-Text. Es hätte viele Möglichkeiten einer sinnvollen Antwort gegeben: ein Versprechen in Demut, ein Hinzuziehen einer moralischen Instanz, ein sehr persönliches Statement eines Verantwortlichen, ein Darstellen des eigenen Antriebs und der eigenen Ziele und Erfolge – aber stets mit Reflexionsbereitschaft und mit der Erklärung, was warum nicht erreicht worden ist. Die CDU hat die akute Chance vertan.
Rezos Video bleibt ein Fanal für die Angeschlagenheit der Union und der GroKo-Regierung und als Demonstration des Einflusses solcher Netz-Aktivisten auf unabsehbare Zeit online. Es ist langlebig, robust, haltbar und wird immer wieder geklickt und für Analysen herangezogen.
Der bayerische Teil der Union versucht jetzt, das Rezo-Video in seinem neuen CSYou-Kanal auf YouTube mit optischen und akustischen Effekten und einem frisch blondierten vormaligen Anzugträger namens Armin zu beantworten. Die Werbevideos gehen allerdings gehörig schief, wie man den Kommentaren und dem Verhältnis von Likes und Dislikes entnimmt. Gründe gibt’s viele: Armin wettert nur gegen andere und wirbt ausschließlich für CSU-Projekte und -Lösungen (Jugendliche finden Werbung meistens grässlich). Er dokumentiert also keine Eigenständigkeit und wirkt dabei unwahrhaftig und überdreht. Erkenntniswert? So ausgeprägt wie bei den Teletubbies. Unterhaltsamkeit? Durchaus gegeben für die Stammwählerschaft. Aber ungeeignet als Missionierungsversuch.
Alles in allem behandeln die drei GroKo-Parteien das Netz noch immer, als sei es nur der Daddelkanal für schulschwänzende Teenager. Ihre Online-Angebote sind altbacken, gespreizt und hölzern. Da gibt es viele Werbefilmchen und Imageclips, garniert mit Selfie-Statements. Wirklich tiefgehende Auseinandersetzungen mit der Perspektive, den Problemen und Ansichten der Jugend (oder anderer Wählergruppen) – Fehlanzeige. Dagegen ist Rezos Zerstörungs-Video schon große Kunst, akribisch belegt mit O-Tönen, Dokumenten und Quellenangaben.
Dabei müsste eine Partei eigentlich Hunderte gute Geschichten erzählen können von Menschen, die mit gutem Grund diese Zugehörigkeit gewählt haben und die irgendwie auch Werte-Vorbilder sind. Politiker sollten jedenfalls glaubwürdig (und smart) erklären können, warum sie diesen Job gewählt haben, was sie sich vorgenommen und erreicht haben und warum die jeweilige Partei dafür genau die Richtige ist. Wer das nicht kann, sollte sich überlegen, ob er noch richtig organisiert ist.
Nur werblich dürfte diese Kommunikation eben nicht sein, sondern reflektierend, ehrlich, problem- und lösungsorientiert. Die schwierigen Themen müssten vorkommen; verschiedene Wege und Maßnahmen könnten erläutert werden. So würde eine Partei glaubwürdig zum Diskurs beitragen.
6. Story-Notstand: Der ikonographische Wandel begünstigt packende Geschichten, die von Parteien aber nicht erzählt werden.
Gegenwärtig erleben wir einen ikonographischen Wandel. Immer mehr Screens im öffentlichen Raum beanspruchen unsere Aufmerksamkeit. Es gibt schon das digitale Papier, das man in die Jackentasche stecken kann und auf dem sich eine immer aktuelle Zeitung via Satellitenfunk lesen ließe. Runde Bildschirme werden in wenigen Jahren überall in unserem Blickfeld flimmern: vielleicht im 360-Grad-Winkel um Litfaßsäulen gespannt, vielleicht am Kotflügel eines Autos oder am Seitenleitwerk eines Passagierfliegers. Wir Augentiere sind entzückt und verwirrt angesichts der geschnittenen und geblendeten bunten Videozukunft.
Diese Entwicklung bietet politischen Parteien gute Möglichkeiten, die Menschen teilhaben zu lassen am Zustandekommen ihrer Entscheidungen. Wir leben ohnedies im digitalen Zeitalter, der Ära fast ohne Geheimnisse. Die Parteien sollten lernen, aktiv, nachdenklich und mit viel mehr Transparenz mit Kritik umzugehen. Sie können sich darauf einstellen und sich selbst mutiger dem Dialog stellen – nicht nur jenem der freundlichen Gastgeberinnen in den öffentlich-rechtlichen Plaudershows. Es gibt auch in der CDU Menschen (z.B. den Thüringer Landesvorsitzenden Mike Mohring), die vormachen können, wie’s geht.
Aber zuförderst fehlt es bei den drei GroKo-Parteien wohl noch an einer Haltung und am Mut, eine so andere Kommunikation und Offenheit zu nutzen. Ein Blick über den Rhein könnte ihnen helfen: Mit seiner Le Grand Débat National hat der französische Präsident Emanuel Macron immerhin einen Großteil seiner Wähler zurückgewonnen nach den herben Popularitätsverlusten seiner Bewegung En Marche infolge der Gelbwestenproteste.
7. Fallhöhen-Ignoranz: Klimaschutz ist kein Programmpunkt unter anderen, sondern die Meta-Agenda.
Nach der Europawahl 2019 schwurbelten CDU und SPD, sie hätten nicht genügend auf das „Thema“ Klimaschutz gesetzt. Die herrschende Politik behandelt den Klimaschutz, als wäre er ein politisches Thema unter vielen. Er wird damit gleichgesetzt mit Rentenerhöhung, kostenfreien Kitaplätzen, Computerausstattung in Schulen und der Sicherung von Grenzen.
Damit haben viele Politiker in den Augen ihrer jugendlichen Kritiker die Dimension nicht verstanden. Denn eine Rentenerhöhung kann man machen oder lassen – je nach Kassenlage. Die Erdüberhitzung und die Emissionen in der Atmosphäre aber lassen sich mit dem Griff in den Geldsäckel nicht verhindern.
Einen solchen technokratischen Umgang mit dem vermutlich größten Menschheitsproblem, das die ganze Welt basal und unmittelbar betrifft, können viele junge Leute nicht verstehen. Für sie ist der Klimaschutz eben nicht eines von vielen Wahlkampfthemen. Sie betrachten den Umwelt- und Klimaschutz als überlebenswichtige Aufgabe, der sich jeder Verantwortliche mit Kopf, Herz und Hand widmen sollte. Von der Politik erwartet das Gros der Wähler wirksame Maßnahmen, damit Deutschland seine Zusagen zum Pariser Klimaabkommen einhält.
Die sonst so klimaträge GroKo will mit dem „Klimakabinett“ den Eindruck erwecken, als sei ihr dies bewusst. Die drei Parteien haben erkannt, dass der Klimaschutz vielen Menschen auf der Seele brennt. Milliarden wollen sie aus dem Haushalt zur Verfügung stellen, um z.B. den Kauf für E-Autos zu fördern, für die es aber noch keine hinreichenden Schnell-Ladesäulen gibt. Auch diese Infrastruktur soll nun endlich entstehen. Bahntickets, so die Planung, werden nach vielen Preiserhöhungen der Vergangenheit demnächst ein wenig günstiger und Flugreisen etwas teurer. Außerdem will die Regierung Plastiktüten abschaffen und den Emissionshandel verstärken. Sonst wird sie wegen unterlassenen Klimaschutzes, zu dem sie sich verpflichtet hatte, Milliardenstrafen zahlen müssen.
Aber der Maßnahmenplan ist allenthalben als enttäuschend aufgenommen worden, vor allem bei den Wissenschaftlern und der jungen Generation. An einen beschleunigten Kohle-Exit, an ein garantiertes Ausstiegsdatum aus der Produktion und Zulassung von Verbrennungsmotoren, an eine Verkehrswende und an das Ende von Gasheizungen hat sich die Bundesregierung nicht gewagt. Die nächsten Generationen warten auf grundlegende Veränderungen. Bislang unterschätzen die GroKo-Parteien offensichtlich, dass es sich bei den Menschen, die den Klimaschutz priorisieren, um eine generationsübergreifende Wertegemeinschaft handelt. Die Bürger wählen diejenigen Politiker und Parteien, die ihnen bei ihren Herzensanliegen am nächsten sind. Und die Glaubwürdigkeit einer Regierung hängt wesentlich davon ab, ob sie auch unpopuläre Maßnahmen durchsetzt, weil sie von deren Richtigkeit überzeugt ist.
Herzlich, Ihr
Matthias Michael, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Reputationsmanagement