Die amerikanische Wirtschaftselite postuliert ein neues Denken: Nicht mehr die Aktionärsinteressen stehen im Fokus, sondern die gesellschaftliche Entwicklung. Meint sie das ernst? Und inwieweit kann sich Deutschland daran orientieren?

Was ist los in der deutschen Wirtschaft? Die Zahlen sind großenteils noch ordentlich, aber das Ansehen der heimischen Industrie sinkt seit Jahren. Einige Beispiele für die Gründe des nachhaltigen Reputationsschadens: Volkswagen betrügt seine Kunden, die Behörden und die ganze Gesellschaft, um schlechte Abgaswerte seiner Verbrennermotoren zu vertuschen. Die Deutsche Bank schlittert von einem Skandal zum nächsten, z.B. wird gegen sie ermittelt wegen des Verdachts auf Mitwirkung an umfangreichen Cum-Ex-Steuerhinterziehungen. Das zweitgrößte private Bankhaus des Landes, die Commerzbank, musste wegen beinahe ruinöser Managementfehler sogar teilverstaatlicht werden.

Eon und RWE tauschen Geschäftsbereiche, weil sie die Energiewende ignoriert oder zumindest verschlafen haben. Auch Karstadt und Kaufhof haben versäumt, ihre Sortimente und Angebote zu modernisieren. Opel ist nur noch ein Schatten seiner selbst. Thyssen versenkte Milliarden bei dem Versuch, ein profitables Stahlwerk in Brasilien zu bauen und verscherbelte es schließlich an einen Wettbewerber aus Argentinien; eine Fusion mit dem indischen Stahlriesen Tata Steel scheiterte. Linde fusionierte 2016 mit dem US-amerikanischen Wettbewerber Praxair und wird jetzt aus Dublin geführt.

Die Automobilbranche hat über Jahrzehnte
an ihrer strukturell veralteten Verbrennertechnik festgehalten

Bayer kaufte im gleichen Jahr für 66 Milliarden US-Dollar das schlecht beleumundete US-amerikanische Unternehmen Monsanto und muss sich seither mit Zigtausenden Klagen auseinandersetzen, sodass der Unternehmenswert extrem geschrumpft ist. Die gesamte Automotive-Branche klagt über die Umbrüche durch die Elektromobilität und verschweigt, dass sie die Veränderungen selbst über mindestens zwei Dekaden hinausgezögert hat, um so lange wie möglich hohe Margen mit der strukturell veralteten und umweltschädigenden Verbrennertechnik (die im 19. Jahrhundert entwickelt wurde) einzufahren.

Fehler, Krisen, Merkwürdigkeiten und Versäumnisse bei deutschen Konzernen. Deren Vorstände handelten in den vergangenen Jahrzehnten zwar stets zum Wohl der eigenen Gratifikation, aber nicht immer im Sinne ihrer Unternehmen und schon gar nicht im Sinne der Gesellschaft.

Konzerne wollen sozialverantwortlich handeln –
das klang früher wie eine Idee aus der Moraltheologie

Das war in den USA nicht anders. Aber am 19. August 2019 geschah hier etwas Ungewöhnliches: Der feine Club Business Roundtable (BR), eine 1972 gegründete Lobbyorganisation, die 204 Vorstandsvorsitzende der größten amerikanischen Konzerne umfasst, hat erstmals in seiner 47-jährigen Geschichte eine neue Richtung verkündet. Denn bis dahin hatte er seit seiner ersten öffentlichen Deklaration 1978 immer den neoliberalen Kapitalismus in Reinform gepredigt. Immer wieder schrieben die Konzernbosse den Nationen der Welt ins Stammbuch, die Wirtschaft solle freigeräumt werden von Regularien und Beschränkungen. Die unsichtbare Hand des Marktes werde alles zum Guten regeln: für den Wohlstand der Menschen, der Konsumenten, der Unternehmen – und vor allem der Spitzenmanager selbst.

In seinem jüngsten offenen Brief (vom 19. August 2019), der von 181 der CEOs unterschrieben wurde, postuliert der BR nun erstmals ein neues Mantra: Nicht mehr nur die Anteilseigner, die Aktionäre, sollten von der steigenden Leistung der Unternehmen beglückt werden, sondern daneben vier weitere Anspruchsgruppen, neudeutsch Stakeholder. Nämlich: die Mitarbeiter, die Kunden und die Lieferanten der Konzerne sowie die Kommunen der Unternehmensstandorte. Die Spitzenmanager wollen demzufolge für faire Beziehungen zu ihren Zulieferern sorgen und sich für mehr Nachhaltigkeit in der Wirtschaft einsetzen. Unternehmen seien dafür da, sozialverantwortlich zu handeln, die Gesellschaft weiterzuentwickeln und zivilisatorischen Zielen wie Umwelt- und Ressourcenschutz sowie ethisch richtigem Konsumieren und Wirtschaften nachzukommen. Das klang noch vor Jahren in den Führungsetagen der Wirtschaft wie eine Idee aus der Moraltheologie.

Die CEOs berücksichtigen noch immer nicht
alle wichtigen Anspruchsgruppen

Warum die Wirtschaftsführer nicht erkannt haben, dass es etliche weitere Anspruchsgruppen gibt, deren Interessen sie ebenfalls berücksichtigen sollten, bleibt unklar. Beispielsweise tun Unternehmen gut daran, auch einen beständigen Dialog mit der Politik und dem Gesetzgeber, mit Gewerkschaften und Nichtregierungsorganisationen, mit Wettbewerbern und Behörden, mit Medien und der Öffentlichkeit zu führen. All dies wird in dem Brief nicht erwähnt.

Darin heißt es vielmehr: „Wir fördern Vielfalt und Integration, Würde und Respekt – einen fairen und ethischen Umgang mit unseren Lieferanten. Wir engagieren uns als gute Partner für die anderen großen und kleinen Unternehmen, die uns helfen, unsere Missionen zu erfüllen, und unterstützen die Gemeinden, in denen wir arbeiten. Wir respektieren die Menschen in unseren Gemeinden und schützen die Umwelt, indem wir in allen unseren Geschäftsbereichen nachhaltige Praktiken anwenden – und schaffen langfristigen Mehrwert für unsere Aktionäre, die das Kapital bereitstellen, das es Unternehmen ermöglicht zu investieren, zu wachsen und zu innovieren.“

Jamie Dimon, der BR-Vorsitzende und CEO der Großbank JPMorgan Chase, sagte über die neue Ausrichtung: „Große Arbeitgeber investieren in ihre Beschäftigten und die Gemeinden, weil sie wissen, dass sie nur so langfristig erfolgreich sein werden. Diese modernisierten Prinzipien spiegeln das unerschütterliche Engagement der Geschäftswelt wider, weiterhin auf eine Wirtschaft hinzuarbeiten, die allen Amerikanern dient. (…) Wenn sich Unternehmen nicht in gesellschaftliche Angelegenheiten einmischen, wird es schwierig sein, darin Fortschritte zu erzielen.“

Ist die Wirtschaft tatsächlich zu der Erkenntnis gelangt, dass es der Zweck von Unternehmen sei, die Gesellschaft zu verbessern? Und nicht nur den Wert der Aktien und damit der Firmen zu steigern? Sozialverantwortung statt Profitmaximierung? Nachhaltigkeit statt Wachstum? Arbeitsplatzsicherung statt Rationalisierung?

Bislang dachten die Vorstände
meist im Rhythmus von Quartalsberichten

Wenn das aktuelle Diktum tatsächlich ernst gemeint wäre und wenn die großen US-Unternehmen diese Position auch umsetzten und ihre Geschäftsmodelle entsprechend änderten, könnte dies als wichtiges Signal für einen grundlegenden Wandel im kapitalistischen Wirtschaftsmodell gewertet werden.

Denn bei den US-amerikanischen Aktienunternehmen hat sich seit Jahr und Tag alles zuvörderst um die Interessen der Aktionäre gedreht. Deren Wünsche und Bedürfnisse standen seit der Industrialisierung im Fokus der Manager. Die Vorstände dachten im Rhythmus von Quartalszahlen. Immer ging es um die Rendite des Unternehmens, die Dividende für die Anteilseigner und die Umsatz-, Profit- und Wertsteigerung der Konzerne. Der Aktionär war König. Hauptziel der Manager war es, die Börsenperformance zu steigern und damit die Shareholder zu beglücken.

Bei genauerer Betrachtung allerdings stellt man fest, dass die Aktienwerte in den vergangenen 20 Jahren weit weniger gestiegen sind als die Einkommen der Vorstände, die sich meist aus fixen Vergütungen, Aktienoptionen und Boni zusammensetzen. Die Manager sind mit dem System des Shareholder Value noch viel besser gefahren als die Aktionäre selbst.

Die Manager haben versäumt, ihre vorgeblich neue Ausrichtung
durch Handlungen zu untermauern

Unter den jetzt offenbar einsichtigen CEOs sind Giganten wie Jim Cook (Apple), der inzwischen entlassene Dennis Muilenburg (Boeing), Doug McMillon (Walmart) und Jeff Bezos (Amazon). Nun könnte sich die Welt freuen über so viel Einsehen in der international stilprägenden US-Großindustrie. Allerdings wirkt die Einlassung der Konzernlenker einstweilen nicht besonders glaubwürdig, weil sie versäumt haben, die Inhalte ihrer Kommunikation durch vorheriges Handeln zu untermauern. Sie hätten vielfältige Beispiele für ihr Umdenken und ein entsprechend soziales oder ökologisches Tun sammeln können, um Zweifel an ihrer vorgeblich neuen Mission aufzulösen. Bislang aber liest sich der Appell wie eine zeitgeistige Alibi-Proklamation ohne Resonanz und ohne Folgen.

Immerhin lassen Big-Tech-Giganten inzwischen Wohnungen für ihre Beschäftigten und für Dienstleister in teuren Westküsten-Metropolen wie San Francisco, San Diego, Los Angeles und Seattle bauen. So investiert Apple 2,5 Milliarden US-Dollar, Amazon und Google bauen für je 1 Milliarde und Microsoft für 500 Millionen Dollar. Nun könnte man ihnen auch dabei unterstellen, dies aus Renditegesichtspunkten zu tun, was wiederum ihren Aktionären zupasskäme. Denn sie kennen den dauerhaften Bedarf an Wohnimmobilien in den US-Metropolen am Pazifik und schöpfen daraus langfristige Erträge. Dabei diversifizieren sie ihr Anlageportfolio und binden jene Beschäftigten und Dienstleister an sich, die in den neuen firmeneigenen Wohnungen leben.

Man kann das aber auch anders sehen. Jedenfalls wenn man den BR-Brief wörtlich nimmt und jede Einzelheit glaubt. Dann wäre sein Inhalt ein Zeichen der Hoffnung, dass sich die Wirtschaft nach Gesichtspunkten von Nachhaltigkeit und Gemeinwohlorientierung konsolidiert. Sonach würden die großen amerikanischen Unternehmen einsehen, was viele mittelständische Firmen schon immer wussten und als Philosophie gelebt haben: Fürsorge gegenüber den Beschäftigten, den Kunden und Lieferanten, aber auch gegenüber der Allgemeinheit, der Umwelt und der direkten Umgebung. So etwas zahlt sich langfristig aus und nutzt dem Ansehen und mithin dem Wert des Unternehmens.

Die Einnahmen der US-Vorstandsvorsitzenden
haben sich in 22 Jahren verzehnfacht

Wie das amerikanische Center for Economic and Policy Research aus Washington im August 2019 veröffentlichte, lag die durchschnittliche Aktienrendite in den USA seit Dezember 1997 bei 4,8 Prozent pro Jahr. Einer Analyse des ebenfalls in Washington beheimateten Economic Policy Institutes zufolge sind die Einkünfte der CEOs in der gleichen Zeit um 940 Prozent gestiegen. Dabei wurden die Gehälter und Zusatzvergütungen (z.B. Boni und Aktienoptionen) der Chefs der 350 größten US-amerikanischen Unternehmen herangezogen. Diese CEOs hatten durchschnittlich Zuwendungen im Wert von 14 Millionen US-Dollar pro Jahr von ihren Unternehmen erhalten.

Und was für die Vorstandschefs gilt, trifft ähnlich auch für die Aufsichtsräte zu. Der amerikanische Wirtschaftsautor Steven Clifford rechnet in seinem Buch The CEO Pay Machine vor, dass Aufsichtsräte von führenden Konzernen durchschnittlich 150 Stunden Arbeitszeit pro Jahr für eines dieser Mandate aufwenden. Dafür erhalten sie oft mehrere Hunderttausend Dollar als Aufwandsentschädigung. Die Höhe dieser Beträge legt der jeweilige Vorstand fest. So verdienen die Aufsichtsräte großer Unternehmen also einen Stundenlohn von mehr als 1.000 Dollar. Im Gegenzug genehmigen sie wiederum den Vorständen deren frivole Saläre. Eine Hand wäscht die andere.

Selbst in der dritten Reihe kann man noch
eine Million Dollar Jahresgehalt verdienen

Dieses Wechselspiel geht natürlich zu Lasten der Aktionäre. Auch andere Anspruchsgruppen, die nicht am Profit beteiligt sind (Mitarbeiter, Lieferanten, Nachbarn), werden vernachlässigt. Dass Aufsichtsräte ihre Posten nach einem oder zwei Jahren verlieren, ist eher unwahrscheinlich. Wie Clifford schreibt, werden 99 Prozent von ihnen immer wieder bestätigt. Um ihre Wiederwahl zu verlieren, hätten sie vorher schon aktiv gegen andere Aufsichtsräte opponieren müssen.

Die Höhe der Vergütungen des Konzern-Spitzenpersonals wirkt sich auch auf die nächsten Hierarchiestufen aus. Die zweite Ebene kann in den USA ebenfalls noch 5 bis 10 Millionen Dollar erhalten. Und selbst die dritte Linie hat Chancen, mehr als eine Million Dollar Jahresgehalt zu erzielen. Die Verdienstsummen der Wirtschaft wiederum wirken sich aus auf die Spitzengehälter bei anderen Organisationen: Verbänden, Stiftungen, Nichtregierungsorganisationen, Sparkassen, Gewerkschaften, Krankenkassen, Rundfunkanstalten, Universitäten sowie Regierungs- und Parteipositionen. Überall wird an der Spitze immer mehr verdient. Aber in den US-Konzernen streicht das Management nicht nur das Zehn- bis Dreißigfache eines normalen Angestellten ein – wie in den 1960er und 1970er Jahren –, sondern inzwischen das Vielhundertfache. Selbstredend bedeutet ein so extremer Anstieg der Vergütungen der Leitungsebenen einen entsprechenden Verlust für die unteren Ebenen und auch für die Anteilseigner.

Die meisten Bürger erkennen
keine Läuterung der Spitzenmanager

Wenn ein CEO eines deutschen Unternehmens also tatsächlich alle seine Anspruchsgruppen wertschätzt und es ehrlich meint mit Glaubwürdigkeit, Reputation, mit Nachhaltigkeit, Veränderung, Gerechtigkeit und Wir-sind-die-Guten-Anspruch, dann sollte er wie früher maximal das 30-Fache eines Facharbeiters verdienen. Der Facharbeiter erhält ein Jahresgehalt von durchschnittlich möglicherweise 50.000 bis 60.000 Euro – das machte folglich für den CEO eine Gesamtsumme von rund 1,5 bis maximal 2,0 Millionen Euro.

Manche CEOs versuchen, ihre frivolen Gehälter zu rechtfertigen und behaupten: Wenn der Wasserspiegel steigt, werden alle Boote angehoben, die großen wie die kleinen. Aber der Vergleich stimmt schon lange nicht mehr. Richtiger wäre folgendes: Wenn es in einem Land weder eine Vermögens- noch eine Erbschaftssteuer gibt, profitieren davon weder die armen Menschen noch die Arbeiter und kleinen Angestellten. Im Gegenteil: Sie sind die Leidtragenden dieser politischen Versäumnisse. Profiteure einer solchen Politik sind einzig die vermögenden und reichen Kreise. Deshalb glaubt das Gros der Menschen, an den Interessen dieser kleinen, einflussreichen Wirtschaftselite orientiere sich die Politik mehr als an jeder anderen.

Die Vorstände fürchten, ihre frivolen Gehälter
könnten reguliert oder eingefroren werden

Die Kommentare unter den Online-Zeitungsartikeln über die Initiative der 181 CEOs verdeutlichen auch, dass die meisten Bürger eine Läuterung der Wirtschaftsbosse keineswegs erkennen. Viele Kommentarschreiber glauben eher an eine Alibi-Aktion. Auch die DAX-Vorstände wissen genau, wie extrem die Unterschiede zwischen Ihren sieben- oder achtstelligen Einkommen und den Salären der durchschnittlichen Haushalte gewachsen sind. Und dass sie etwas tun müssen, um bei den Bürgern wieder glaubwürdig zu werden. Sofern die Schere zwischen der Kapitalelite und den arbeitenden Kleinbürgern weiter auseinandergeht, wird der politische Druck womöglich steigen, die Vorstandsgehälter zu regulieren und drastisch zu senken.

Sofern es die Wirtschaftsbosse ernst meinen mit ihrem Bekenntnis zum Richtigen und Guten, sollten sie bei sich selbst anfangen und ihre exorbitanten Gehälter kürzen, spenden, einfrieren oder auf einen bestimmten Satz im Vergleich zum einfachen Beschäftigten festlegen – beispielsweise, wie beschrieben, das 30-fache. So etwas würde Glaubwürdigkeit herstellen, finden viele der Diskussionsteilnehmer. Aber davon sind die unterzeichnenden US-CEOs weit entfernt.

Der Hohepriester des Neokapitalismus predigte:
The business of business is business

Milton Friedman, Wirtschaftsprofessor in Chicago und einer der Hohepriester des Neokapitalismus, veröffentlichte 1970 in der New York Times seinen vermutlich berühmtesten Artikel mit dem Titel: Die soziale Verantwortung der Wirtschaft besteht darin, ihre Gewinne zu steigern (The social responsibility of business is to increase ist profits). Dieser Text ist nunmehr ein halbes Jahrhundert lang von den amerikanischen Wirtschaftsführern beschworen worden wie die Bergpredigt von den Christen. Damit half Friedman Managern, ihre Shareholder-Value-Attitüden zu rechtfertigen. „The business of business is business“, schrieb er.

Immerhin haben die 181 CEOs eingesehen, dass Friedmans Diktum nicht mehr zutrifft. Wer heute erfolgreich Waren und Dienstleistungen verkaufen will, benötigt eine exzellente Reputation. Das hat wenig mit dem Image von Produkten, Marken und Unternehmen zu tun. Denn ein Image ist schnelllebig und vergänglich. Die Reputation dagegen beinhaltet das langfristige Ansehen und Vertrauen aller Anspruchsgruppen in das Unternehmen. Die Reputation ist mithin der wichtigste Wert einer Organisation. Ohne Vertrauen geht nämlich nichts. Niemand wird mit einem Unternehmen Geschäfte machen oder irgendetwas von ihm kaufen, wenn es langfristig als unglaubwürdig, falsch und unsympathisch gilt. So jemandem vertraut man nicht. Dieses Unternehmen wird früher oder später ruiniert sein.

Die Jüngeren wollen wissen, ob ein Unternehmen
die Welt zu einem besseren Ort macht

Monsanto, KiK, das Deutsche Atomforum, einige Spielautomatenbetreiber, manche Venture-Capital-Firmen und selbst die deutsche konventionelle Landwirtschaft – und hier vor allem die tierhaltende – haben offenbar etwas falsch gemacht. Sie alle haben ihr Image über Jahre hinweg vernachlässigt und damit ihre Reputation geschädigt. Wegen eines Skandals ein Jahr lang einmal am unteren Ende von Imagerankings zu stehen, kann ein gutes Unternehmen verkraften. Aber nicht über viele Jahre hinweg. Organisationen, die es versäumen, Vertrauen beständig neu aufzubauen in der Bevölkerung, bei Ihren Kunden und Finanziers und bei etlichen anderen Anspruchsgruppen, werden existenzielle Krisen erleben. Kein CEO kann sich hier ein Aussitzen oder eine Problemignoranz erlauben. Auch moralischer Kredit muss verdient werden.

Die Diskussion dreht sich um die alte Frage: Gewinn oder Sinngehalt, Profit oder Purpose? – Jüngere Menschen wählen ihre Arbeitgeber zunehmend danach aus, ob sie meinen, die Organisation sei gesellschaftlich wichtig und verbessere die Welt – wenigstens ein klein wenig. Das bedeutet: Sie fragen danach, ob das jeweilige Unternehmen mit seinen Produkten und Leistungen, mit seiner Haltung, seiner Vergangenheit und seiner organisatorischen Ausrichtung den Planeten zu einem besseren Ort macht oder nicht. Gehört das Unternehmen zu den „Guten“, den Angesehenen, den Nachhaltigen und Sinnvollen? Leistet es wichtige Beiträge zur Verbesserung der Gesellschaft, der Kultur, des Zusammenlebens, der Zivilisation? Hier stehen sowohl soziale als auch ökologische und technische Fragen im Vordergrund.

Jede Initiative, die geschickt kommuniziert,
kann die Ausrichtungen von Konzernen beeinflussen

Früher, in der analogen Welt, hatten vor allem die Aktionäre das Privileg, Einfluss auf die Unternehmensführung auszuüben. Heute können die Politik, die Medien, die Zulieferer, die Beschäftigten, die Kunden, ja selbst der Wettbewerb und manche Initiativgruppen die Ausrichtung eines Konzerns beeinflussen. Denn jeder hat die Möglichkeit, wirkungsstark zu kommunizieren. Jeder kann seine Argumente und Meinungen kundtun. Jeder ist sein eigener Chefredakteur, Verleger und Herausgeber und erreicht – wenn er es geschickt anstellt – Millionen Menschen. Das bedeutet: Die Gefahren haben sich für Unternehmen erhöht. Missstände und Störungen können sich zu existenziellen Krisen ausweiten. Kleine Fehler führen bisweilen zu Milliardenverlusten.

Die CEOs wissen das. Ihre Berater und Kommunikationsleiter sprechen täglich mit ihnen über die wichtigen Themen, das Wording, die Positionierung, die Strategie und die Ziele der Kommunikation. In der Ära der Digitalisierung und der Globalisierung muss jeder CEO ständig die Agenda aller Anspruchsgruppen seines Unternehmens kennen und darauf reagieren können.

Früher reichte es aus, Fernsehwerbung zu schalten.
Heute wissen die Menschen, dass Reklame lügt

Das stärkere Fokussieren auf den Purpose, den gesellschaftlichen Wert und den Gemeinnutzen, bedingt höhere Anforderungen an die soziale Leistung eines Unternehmens. Dem sollten und müssen Konzerne und mittelständische Unternehmen Rechnung tragen. Früher reichte es aus, Fernsehwerbung zu schalten – flankiert von Plakatkampagnen und Zeitschriftenanzeigen. Aber Werbung ist längst nicht mehr glaubwürdig. Die Menschen wissen, dass Werbung lügt. Sie darf das. Und sie hat es immer getan. Deshalb lässt sich Reputation mit Werbung nicht aufbauen oder verbessern. Wer das noch glaubt und weiter die Kommunikationsmuster der 1970er und 1980er Jahre einsetzt, muss sich über fehlende Zustimmung nicht wundern.

Herzliche Grüße, Ihr

Matthias Michael, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Reputationsmanagement