Volkswagen-Chef Herbert Diess hat am 19. November 2018 auf einer Pressekonferenz bekanntgegeben, dass sein Konzern in den nächsten fünf Jahren 44 Milliarden Euro in die Elektromobilität, ins Autonome Fahren und in neue Verkehrstechniken investieren wolle. Bis 2022 sollen 27 neue Elektromodelle von vier Marken des Konzerns produziert werden. Klingt gut. Aber vier weitere Jahre sind eine lange Zeit. Den ersten Prius, sein revolutionäres Hybrid-Modell, hat Toyota 1997 auf den japanischen Markt gebracht. Das war exakt ein Vierteljahrhundert vor 2022.

Seit die US-amerikanische Umweltbehörde EPA im September 2015 den Abgasskandal von Volkswagen bekannt gemacht hat, lautete der Tenor der Kommunikation der deutschen Automobilindustrie: „Das ist alles nicht so schlimm. Wir kriegen das hin, Deutschland hat gute Ingenieure. Wir sind Marktführer beim automobilen Luxus und bauen die saubersten Dieselmotoren aller Zeiten.“

Es wird anders kommen, als die Spitzenmanager der deutschen Autohersteller wünschen und verlautbaren. Zehn Thesen, die gegen ihre Strategie sprechen.

1. Die Menschen sind weiter als Industrie und Politik.

Millionen Menschen sind betroffen von der Verschmutzung der Luft durch Autoabgase: Menschen, die an Durchfahrtsstraßen wohnen oder in Großstädten oder an Atemwegserkrankungen leiden oder Kinder haben; Bürger, die das Gift aus den Abgasen sehen, hören, riechen und sich mehr und mehr ekeln und wütend werden angesichts der Vorstände deutscher Autokonzerne, die zu lange uneinsichtig gewesen sind; sogenannte Lohas (Lifestyle of Health and Systainability), die neuen Mobilen und alle unter 30 Jahren sowie die nachfolgenden Generationen, die Prius-Fahrer, die Tesla-Fans, die Umwelt-Bewegten, die Naturschützer – diese Menschen, die allesamt grundsätzliche Vorbehalte gegen das Verfeuern von Öl in Autos und das Herausblasen all der Gifte haben, werden täglich mehr.

2. Das Marketing erinnert an den Marlboro-Mann, der an den Folgen des Rauchens verstorben ist.

Die deutschen Hersteller haben lange kein Konzept für eine Elektroinitiative erkennen lassen, sie sind nicht glaubwürdig, weil sie Jahrzehnte verstreichen ließen, weil sie keinen entsprechenden Druck auf die Politik ausgeübt haben, weil ihre Führer keinerlei Anstrengungen unternommen haben, um ein ehrliches Elektro-Ansehen aufzubauen. Die hiesigen Automarken preisen eine strukturell veraltete Technik an. Diesel- und Otto-Motor wurden im 19. Jahrhundert entwickelt. Der Versuch, das Prinzip Verbrennung von endlichen fossilen Rohstoffen auf Autoschauen, in Wirtschaftsmagazinen und an Flughäfen mittels irrer Werbekampagnen und glänzender Autocommercials als zukunftsfähig zu verkaufen, erinnert mich an die coole Marlboro-Werbung mit den Wildpferden und dem Cowboy. Nach Darstellung der Los Angeles Times sollen mindestens vier der Darsteller des „Marlboro-Mannes“ an den Folgen des Rauchens verstorben sein…

3. Der Auto-Macho mit PS-Panzer stirbt aus.

Die Zeit der Angeberei mit einem möglichst dicken Motor mit maximaler Kraft, Größe und Schwere ist vorbei. Diese nach Anerkennung heischenden Fahrer gehen in den nächsten 15 Jahren sukzessive in Rente. Die Entwicklung ist übrigens international. Wer soll die gegenwärtig angepriesenen übergewichtigen und enorm teuren PS-Panzer dann noch kaufen? Beziehungsweise: Welche Unternehmen werden ihren Führungskräften noch solche aus der Zeit gefallenen Giftvehikel als Firmenwagen zur Verfügung stellen?

4. Die Hersteller versuchen, ein totes Pferd zu reiten.

Das Image der Verbrenner ist international ruiniert. Die dröhnenden Großkarossen mit ihren grau-schleierigen Abgasen gleichen Anachronismen auf vier Rädern – Gerätschaften für Menschen, die den Knall der neuen Zeit nicht gehört haben. Der Diesel gilt in den großen Märkten USA und China als tot. Und deutsche Politiker machen sich international lächerlich bei dem Versuch, dieses tote Pferd zu reiten.

5. Der zukunftsweisende Wettbewerb sonnt sich in Anerkennung.

Die deutschen Hersteller lassen sich treiben von Gerichten, Umweltverbänden, Bürgerinitiativen und natürlich vom Wettbewerb aus China, Südkorea, den USA und Japan. In diesen Ländern wurde früher erkannt, wo die Zukunft der Automobilindustrie liegt: bei den alternativen Antrieben. Ressourcenschutz, Umweltbewusstsein, Nachhaltigkeit werden dort belohnt, gefördert und als Lebens- und Zukunftsphilosophie gepriesen. Tesla, Toyota und manche chinesischen Hersteller haben viele Jahre Vorsprung bei der Elektromobilität. Sie sonnen sich in Anerkennung, ihnen steht die Zukunft offen. Die gesamte deutsche Fahrzeugindustrie hat zu lange gezögert, sich auf den Quantensprung einzulassen. Seit Jahren heißt es, der Verbraucher sei noch nicht so weit, man habe bislang keine starken Akkus und tüftele an der Lade-Infrastruktur oder es fehle an staatlichen Subventionen. Der Bürger erkennt diese Verzögerungstaktik.

6. Wer zu spät kommt…

Die deutschen Autofürsten haben die technische Entwicklung verschlafen bzw. ignoriert wie ehedem Nokia und Kodak. Sie wollten nicht wahrhaben, dass die alternativen Antriebe kommen, wenn sie persönlich noch als Vorstände tätig sind. Es scheint, als wollten sie eigentlich die Sache aussitzen. Nun handelt es sich aber nicht um irgendeine Sache, die vergeht, sondern um eine technische Evolution, die sich langsam entwickelt hat, von Verbrauchern für passend und modern befunden wurde und an einem bestimmten Punkt eine enorme Dynamik bekommt und das Alte wegfegt. Das war bei der Ablösung der Mobiltelefone durch die Smartphones so, bei der Ablösung der Langspielplatte durch die CD und dann durch die Streamingdienste sowie bei der Ablösung der analogen Fotografie durch die digitale. Und es wird auch so sein bei der Ablösung des Verbrenners durch das Elektroauto. Sobald chinesische Hersteller oder japanische oder koreanische hierzulande bezahlbare, reichweitenstarke und schnittige Elektroautos anbieten, werden sich die deutschen Marken über ihren Ansehensverlust wundern. Denn erst dann wird ihnen bewusst werden, dass die Menschen – spätestens seit dem immer weitere Kreise ziehenden Diesel-Betrugsskandal – nicht mehr so markentreu sind. Die Autokonzerne wollen eine Gradwanderung vollbringen zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen stinkenden und giftausstoßenden Margenbringern und emissionsfrei betriebenen und margenärmeren Elektroautos. Sie halten so lange an der Vergangenheit fest, weil die Verbrenner mehr Gewinn versprechen. Das frivole Bonussystem für Spitzenmanager trägt zu dieser Rückwärtsgewandtheit bei. Es ist so veraltet wie der Verbrennermotor.

7. Diesel-Gate zieht weitere Kreise.

Der Diesel-Skandal ist noch nicht vorbei. Volkswagen musste infolge des jahrelangen Betrugs schon mehr als 20 Milliarden Euro in den USA zahlen. Dort inhaftierte VW-Manager haben ausgesagt. Mehrere deutsche Staatsanwaltschaften ermitteln. Inzwischen gibt es Klagen europäischer Verbraucher gegen Volkswagen. Und noch immer meint man in Wolfsburg, der Öffentlichkeit vormachen zu können, die Betrügereien in Europa seien mit einem „Software Update“ oder mit Neuwagenrabatten aus der Welt zu schaffen… Derweil mehren sich Rückrufe, Auslieferungsstopps und Ermittlungen auch bei anderen deutschen Herstellern.

8. Der Fisch stinkt, wenn er stinkt, vom Kopf.

Die Autokonzerne werden von den falschen Köpfen geführt. Karl-Thomas Neumann, der die Adam Opel AG von 2013 bis 2017 führte und Opel zu einer reinen Elektromarke machen wollte, verließ das Unternehmen, als der französische Konzern PSA Opel übernommen hatte und Neumanns konsequente und zukunftsorientierte Strategie nicht unterstützte, die mit einem enormen Imagegewinn für den „deutschen Tesla“ verbunden gewesen wäre. Die deutschen Vorstandschefs wirken, als wären sie zu lange nicht mehr U-Bahn gefahren, als vertünden sie nicht, was die Menschen von ihnen halten und was die Stunde geschlagen hat. An den Schalthebeln sitzen nicht die Visionären, die langfristig Denkenden, sondern die Quartalszahlenbringer, die Manager jetziger Profite. Sie werden nicht die Gewinner der Zukunft sein.

9. Die Optimierer sind nicht die Disruptiven.

Die deutsche Automobilindustrie ist nicht auf Disruption eingestellt, sondern vielmehr auf Optimierung. Das ist eine der Kernkompetenzen der hiesigen Hersteller: Immer weiter wird am Alten herumprobiert, so dass man nach und nach noch etwas mehr Pferdestärke aus dem Motor herausziehen kann. Die Motoren verbräuchten tatsächlich weniger Benzin und Diesel, wenn die Autos nicht immer größer, stärker und schwerer geworden wären. Die deutschen Hersteller sind in der Vergangenheit nicht unbedingt durch Mut aufgefallen. Bekannt geworden ist BMW durch seine Elektroinitiative mit dem I3 und dem I8. Der kleine mit Hochdach sieht ausgesprochen hässlich aus, hat dünne Reifen und wirkt wie eine Studie eines überteuerten Opa-Stadtautos. Der andere ist kein Elektroauto, sondern ein teurer Hybrid mit einer kleinen Auflage, so dass der Eindruck eines Alibi-Modells entstand, mit dem BMW signalisierte: Wir könnten vielleicht, wenn wir wollten, aber einstweilen sehen wir noch nicht die Notwendigkeit einer grundlegenden Umsteuerung.

10. Die Politik in Deutschland fördert die Hersteller – aber sie fordert sie nicht genug.

Leider fehlt die politische Unterstützung für die lange erforderliche Änderung der Individualmobilität in Deutschland. Die Große Koalition setzt andere Schwerpunkte. Sie investiert nicht ausreichend in die Förderung von modernen Verkehrssystemen, beispielsweise in eine flächendeckende einheitliche Ladeinfrastruktur für Elektrofahrzeuge. Offenbar versucht die Politik, die Autohersteller hierzulande mit ihrer Obstruktionshaltung zu schützen. Die Regierungsparteien CDU, CSU und SPD stützen die Benzin- und Dieselverbrenner, weil sie fürchten, die ausländischen Automobilhersteller hätten bei den alternativen Antrieben die Nase vorn, die deutschen verlören ihre Führungsposition bei den schweren, kräftigen und teuren Luxus-PKW, die Werke könnten nicht schnell genug umstellen und sie würden Gewinne und Marktanteile verlieren. Diese Befürchtungen sind nicht unbegründet. Aber was ist die Alternative: dass man die technische und automobile Entwicklung an sich vorbeiziehen lässt? Dann wird der Schaden viel größer sein als jetzt befürchtet. So entwickelt sich die Automobil-Industrie hierzulande zur Sorgenbranche.

Herzlich, Ihr

Matthias Michael