Die GroKo-Parteien haben die Jugend verloren, weil sie so tun, als sei Umweltschutz ein „Thema“ – es ist möglicherweise ihr Memento mori. Ihre Reputation sinkt deshalb weiter.
Die monorationalen Industriegesellschaften haben die von ihnen verursachten Folgen für die Natur immer ignoriert. Ihr Konzept für den Umgang mit den natürlichen Ressourcen beruhte auf einer rasanten Ausbeutung. Wohlstand war das große Ziel, möglichst schnell. Ewigkeitskosten durch Vergiftung, Vermüllung und Zerstörung von Arten, Regionen und Elementen wurden von einer quietistischen Politik jahrzehntelang nicht veranschlagt. Die Wirtschaftsnationen des Nordens taten so, als seien die Vorräte des Planeten und seiner Atmosphäre unerschöpflich. Das war Konsens und blieb vereinfachende Gewohnheit.
Wirtschaft musste nicht moralisch sein oder handeln. Von einer ethischen Evolution waren die Menschen so weit entfernt wie Bachar al-Assad vom Friedensnobelpreis.
„Heiliger Fortschritt“, trompeteten die Ichlinge, „es geht aufwärts!“
Die Ego-Gesellschaften der wohlhabenden Verschwender, der Giftmischer und Verschmutzer, haben sich zu lange selbst freigesprochen von Verantwortung für die Lebensgrundlagen aller kommenden Generationen. Sie haben den vollkommen dionysischen Kapitalismus verkündet und gelebt, als gäbe es kein Morgen, als müsse es kein Morgen geben. Sie existierten im Irrtum. Im naiven Glauben ans obszöne Immer mehr – unter pathologischer Verdrängung von Ratio und Moral. Dass Gewinnmaximierung mit Gefahrenmaximierung einhergeht, haben sie zu lange verdrängt und vertuscht.
Wer vor einem Überdrehen der Ausbeutung oder gar einer Apokalypse warnte, wie 1972 schon der Club of Rome mit seiner Mahnung eines Endes des Wachstums und der Aufforderung zu einer kopernikanischen Wende, wurde verlacht – wie im Rausch. „Heiliger Fortschritt“, trompeteten die Ichlinge, „es geht aufwärts!“ Weiter, mehr, größer, trunkener…
Deutschland hat es nach dem Zweiten Weltkrieg verstanden, das Leid seiner Bürger zu minimieren, jedenfalls das wirtschaftliche. Es gab keine Not mehr, keine Kriege oder Seuchen. Niemand musste in diesem aufstrebenden Land mehr hungern. Soziale Marktwirtschaft hieß die gepriesene Lösung. Der Staat kontrollierte erfolgreich viele Unwägbarkeiten. Es gab Glaubenssätze, die als höhere Wahrheiten wahrgenommen wurden. Zum Beispiel: Die ungehemmte Industrialisierung sichert das ökonomische Aufblühen des Landes. Das war die selbstgewisse Zeit der wundersamen Wohlstandsmehrung.
Die Kollateralschäden der industriellen Modernisierung sind zu lange sozialisiert worden
Fast alle goutierten das, die Strategie galt als gesellschaftlicher Konsens. Die Zukunft war weit, man wollte sie schnell erreichen.
Die langfristigen Folgen der kurzfristigen Geschäftsmodelle von Konzernen, die z.B. Atomanlagen, Kohlebagger, Plastikverpackungen, FCKW-Sprays und Benzinmotoren bauen, sind seit der Industrialisierung des 18 Jahrhunderts immer vergesellschaftet worden. Es wurde entwickelt, produziert und auf den Markt geworfen. Was Menschen kauften, war ein Erfolg. Was liegen blieb, ein Misserfolg. Produziert wurde immer mehr von dem, was sich gut absetzen ließ. Die Reste blieben für die Gesellschaft unsichtbar, denn sie wurden verbrannt oder vergraben. Der Staat vermied eine umwelt- und naturschutzfixierte Reglementierung der Wirtschaft – aus Angst, damit den Wohlstand zu gefährden.
Ökologische Folgen? Vermüllung? Entsorgung? Recycling? – Das musste die Hersteller nicht sonderlich interessieren in einer Welt des quantitativen Konsums von fast fashion bis Billy-Regal, von den Discounter-Fischstäbchen bis zum Last-Minute-Schnäppchen-Trip in die Türkei. Im Rahmen einer zweckrationalen Unverantwortlichkeit wurden die Verantwortlichen als mehrheitskonforme Gewohnheitstäter gesellschaftlich freigesprochen. Aber Verheißung und Verhängnis liegen nah beieinander.
Die Verantwortlichen wurden als mehrheitskonforme Gewohnheitstäter freigesprochen
In New York, Berlin und Peking wummern nach wie vor die Kraftwerke, die Heizungen und die Motorfahrzeuge, die allesamt fossile Rohstoffe verbrennen – im Indischen Ozean und in der Südsee, wo man noch auf die Konsummoderne wartet, versinken ganze Inselgruppen an deren Folgen. Die industrielle Welt zerstört die naturgebundene. Die einen genießen die Vorteile der Turbowirtschaft, die anderen müssen die Nachteile ausbaden: z.B. die Minenarbeiter im Kongo, die Näherinnen in Bangladesch, die Arbeiterinnen in den Plastikspielzeug-Fabriken in China.
Der industrialisierte Norden hat Probleme ausgelagert in „Gering-Regionen“ – mit geringer Bezahlung, geringer Sicherheit, geringem Recht und geringer Wirtschaftsethik. Dort wird unter geringen sozialen und ökologischen Vorgaben produziert. Die Reflexion über die Schäden dieser Wirtschaftsweise wie z.B. den frühen Tod der Arbeiter dort oder die Verseuchung von Wasser und Boden oder die langfristigen Folgen für die Abhängigkeit dieser Underdog-Staaten von den Auftraggebern und ihren Knebelbedingungen: – alles ziemlich gering.
Auch moralische Instanzen wie Kirchen, Gewerkschaften, Intellektuelle und Künstler haben sich allzu lang keine Illusionen gemacht bezüglich einer Besserung. Der sparsame und disziplinierte Deutsche? Das galt nicht, wenn es um den Verbrauch an Luft, Boden, Wasser ging.
Bolsonaro lässt den Regenwald abholzen und spottet gegen Deutschland wegen seiner Kohlekraftwerke
Klimaforscher, die den Menschen verkündeten, ihre Lebensstile seien inkommensurabel mit dem Schutz des Planeten, wurden links liegengelassen, als wollten sie den „Wachturm“ der Zeugen Jehovas feilbieten.
Der profitorientierte Kapitalismus ist offenbar dabei, sich zu Tode zu siegen. Die Industriegesellschaften der nördlichen Hemisphäre kranken an ihren Triumphen. Sie sind so siegreich, dass sich viele Menschen allradgetriebene Hochdachpanzer mit Verbrennermotoren, einen komplett plastikverpackten Alltag und immer wieder Billigflugreisen leisten können. Die Kollateralschäden der industriellen Modernisierung für die Umwelt, den Planeten, die Atmosphäre und die Nachwelt wurden politisch in Kauf genommen. Das war den Unternehmen nur recht und billig. Sie brauchten nicht nachhaltig zu wirtschaften oder für die zerstörerischen Folgen ihres Tuns geradezustehen.
Dass produktives Wirtschaften destruktive Folgen hat, interessierte die Eliten in den paradiesischen Zeiten der hemmungslosen und unreflektierten Überproduktion nicht. Die Demokratien, die meinten, ihr System sei autokratischen überlegen, sorgten für auffallend schnelle Naturzerstörungen auf allen Ebenen.
Wer könnte helfen? Die Vereinten Nationen? Sie schützen zwar Kultur- und Natur-Welterbestätten, aber systematische zivilisatorische Zerstörungen in großer Dimension wie die des Regenwaldes bekämpfen sie nicht wirkungsvoll. Die Uno hat es versäumt, eine entsprechende fördernde und strafende Einrichtung zu etablieren, die tatsächlich nationale Regierungen sanktioniert, wenn sie ökologische Werte vernichten lassen. Und sie hat es unterlassen, eine konsequentionalistische Wirtschaftsethik zu fördern und zu fordern. Deshalb kann Brasilien seit Jahren die grüne Lunge der Erde dezimieren. Präsident Bolsonaro lässt unbekümmert abholzen und spottet gegenüber dem deutschen Entwicklungshilfeminister Müller, Deutschland solle erst einmal seine Kohlekraftwerke abschalten, bevor man sich über die Abholzung des Regenwaldes in Brasilien beklage. Brasil first!
Verantwortungsethik ist ein Fremdwort für dissensuelle Machtmachos
Viele Gefahren haben sich zu Weltbedrohungen entwickelt: die Bevölkerungsexplosion, die atomare Hochrüstung, das Ozonloch, die Erdüberhitzung samt Schmelzen der Polkappen, die Rodung des Regenwaldes, die Vermüllung mit Plastik, die Ausbreitung von antibiotikaresistenten Keimen. Diese Themen gehören auf jeden G7-, G20- und Uno-Gipfel. In dieser Geisterstunde sollte die Politik konzertiert und multilateral handeln und eine globale Verantwortungsethik etablieren. Die Moral müsste makroökonomisch ausgerichtet sein.
Das funktioniert freilich schlecht mit dissensuellen Machtmachos wie Trump, Putin und Xi Jinping. Solche Hoheprediger der organisierten Unverantwortlichkeit sehen weniger globale Umweltgefahren, auf die man sich normgebend einstellen sollte, als vielmehr nationale wirtschaftliche und politische Einschränkungen, die sie zu vermeiden suchen. Sie deformieren ökonomische Prinzipien, weil sie qua Größe den Anschein vermitteln, Unilateralität sei zeitgemäß, wirtschaftlich und erfolgreich. Dabei nutzen sie die einfachste Narration der Weltgeschichte: „Wir gegen die anderen! Hier sind Helden gefragt. Unbeugsame, Leidensfähige, Selbstgewisse, Bekehrte.“
Besonders Trump hat angesichts seiner Risikoblindheit enttäuscht. Er verhält sich wie ein großes, dickes Kind auf dem Spielplatz, das alle anderen aus dem Karussell wirft. Jeden nimmt er sich einzeln vor. Dieses unilaterale Eins gegen Eins ist seine Stärke. Die anderen halten nicht zusammen (Merkel lässt Macron mit fast allen seinen Ideen für ein stärkeres Europa im Regen stehen). So verschafft sich der amerikanische Schläger Respekt und ist immer der dumpfe Gewinner. Keiner hat mehr Spaß am Karussellfahren. Dem Bully wird am Ende zwar schlecht sein, das ist aber ein schwacher Trost für den traurig zuguckenden Rest.
Die Externalisierung von Risiken, Gefahren und Handlungsfolgen offenbart sich als Systemfehler des Konsumkapitalismus. Darum erodiert inzwischen die Glaubwürdigkeit von Politik und Wirtschaft. Das liberale Bündnis von Staat und Kapital wird zunehmend infrage gestellt. Fast alle Einrichtungen des „alten, satten, etablierten Systems“ werden verdächtigt, das Falsche und Gefährliche zu stützen. So hat sich die Lage ausgeweitet zu einer Weltkrise, auch einer Institutionenkrise.
Thomas Hobbes verteidigte eine Auflehnung gegen den Staat dann, wenn er lebensgefährliche Zustände duldet
Wer trägt die Verantwortung für die unselige Entwicklung? Niemand ist haftbar zu machen, alle waren beteiligt. Es gab ein Verbrechen der öffentlichen Systeme Politik und Wirtschaft, die es konzertiert und rücksichtslos zu ihren eigenen kurzfristigen Vorteilen begangen haben. Alle haben mitgemacht, niemand zeigte Schuldbewusstsein oder Reue. Die Wohlstandsgesellschaften waren süchtig geworden – ähnlich wie ein Kettenraucher, der weiß, dass er sich spätestens binnen Jahrzehnten zugrunde richtet. Und wie jeder Süchtige machten die Industrienationen ihr Umfeld, die zweite und dritte Welt, co-abhängig. Alle sahen das debile Siechtum des hustenden Patienten, der jede Chance nutzte, um sich hinter dem Rücken seiner Familie und den Ärzten eine Filterlose anzuzünden. Jüngst wurden erste Tumoren festgestellt. Das einzige, was ihm vielleicht noch helfen könnte, sind viele radikale Schnitte ins Fleisch.
Die untröstliche Jugend hat unterdessen das Gefühl, die alten Eliten legitimierten immer weiter die Bedrohungen der Lebensgrundlagen. Ob die Politik aus Unverständnis, aus Inkompetenz oder aus Bequemlichkeit ihre eigene Ohnmacht verwaltet und jede global governance versäumt hat, ist dabei nachrangig. Die mächtige Industrie hat sich gegen die politische Bürokratie durchgesetzt. Vorstände haben viel Geld verdient mit ihren Geschäftsgebaren, die zu Lasten aller gegangen sind.
Der englische Philosoph Thomas Hobbes hat im 17. Jahrhundert in seinem Leviathan proklamiert, es sei rational und gut, wenn sich der Bürger auflehnt gegen den ansonsten starken Staat, mit dem er einen Gesellschaftsvertrag geschlossen hat; und zwar dann, wenn der Staat lebensgefährliche Zustände erzeugt oder duldet. Genau das tut er spätestens jetzt nach Auffassung der politisierten Jugend, die derweil von älteren sonnengebräunten Cabrio- und „Sportwagen“-Fahrern als Spaßbremse verspottet wird.
Wir erkennen, dass die Gefahren nicht mehr beherrschbar sind
Also üben sich die jüngeren Generationen in der Kunst des politischen Konsums. Sie wollen nicht unbedingt verzichten. Aber bewusst kaufen und leben – mit einem guten Gefühl. Flugreisen, Plastikverpackungen, Pflanzenspritzmittel und mitunter gar Fleisch und Wurst und Übersee-Obst sind tabu, damit das Ökogewissen keine Bocksprünge macht. Das verstehen viele als gelebte Erste Hilfe in einem akuten Notfall.
Offenbar ist die naive Moderne dahin, die Ära des Nichtwissens bzw. Nichwissenwollens, die Zeit des grenzenlosen Konsumismus. Die Phase der Nachmoderne hat begonnen, die dadurch gekennzeichnet ist, dass wir beginnen, über unser Handeln und das unserer Vorfahren zu reflektieren und zu Ergebnissen kommen, die ein grundlegend anderes Wirtschaften, Konsumieren und Leben erfordern. Wir leben unter den Bedingungen der von uns selbst heraufbeschworenen Gefahren und erkennen, dass sie nicht mehr „beherrschbar“ sind. Dass die Treibhausgase nicht mal eben unterhalb der Ozonschicht von findigen Ingenieuren abgesaugt werden können.
Dabei kennen wir die Bedrohungen nicht einmal genau: Wir wissen nicht, was passiert, wenn durch das Schmelzen des Permafrostes in Alaska, Kanada und Russland unvorstellbare Mengen Methan und Kohlendioxid freiwerden.
Angesichts der in Echtzeit beobachtbaren Gefahren ist es eine conditio humana, sich den Fakten der Wissenschaft und vor allem der Klimaforschung zu stellen und entsprechend fundamentale Maßnahmen umzusetzen.
Klimatische „Kipp-Punkte“ werden wahrscheinlicher
So etablierte sich – inspiriert von der gandhihaft stoisch demonstrierenden schwedischen Schülerin Greta Thunberg – die weltweite Fridays-for-Future-Bewegung, die zu einer Politisierung der Jugend in Deutschland und in vielen Weltregionen beigetragen hat. Dann schlossen sich auch mehr als 26.800 deutschsprachige Wissenschaftler zu Scientists-for-Future-Aktionen zusammen, weil sie vorher kaum gehört worden waren von der regierenden Politik. Weder die Jugend noch die Forscher wollen weiter Toleranz aufbringen gegenüber der Gefahren-Ignoranz von Politik und Wirtschaft.
Die Scientists for Future warnen: „Bei zunehmender Erwärmung der Erde werden gefährliche klimatische Kipp-Punkte des Erdsystems, d. h. sich selbst verstärkende Prozesse, immer wahrscheinlicher (Schellnhuber et al.: Why the right climate target was agreed in Paris. Nature Climate Change 6: 649-653, 2016; Steffen et al.: Planetary boundaries: Guiding human development on a changing planet. Science 347: 1259855 2016 und 2018).“
Huch! – Urplötzlich wacht die so unverwundbar große GroKo in der Welt der Klimazerstörung, der Jugendproteste und der sinkenden Zustimmung auf.
Die GroKo-Parteien könnten erkennen, dass aktive Umwelt- und Klimaschutzpolitik für sie keine Option ist, sondern die Bedingung ihrer Existenz – und damit ihr Memento mori. Allerdings leiden spezifisch diese Parteien unter einem Machtgefälle in Umweltfragen. Nichtregierungsorganisationen, Fridays- und Scientists-for-Future sowie Parteifunktionäre der Grünen wissen offenbar mehr darüber als die Regierungspolitik. Die Reputation, die Umfragezahlen und die Wahlergebnisse der drei Berliner Regierungsparteien sinken seit Monaten beständig.
Den ikonographischen Wandel haben die GroKo-Parteien konsequent ignoriert
Den anhaltenden Absturz der GroKo befördern nicht zuletzt ihre teils atavistischen Argumentationsmuster und Attitüden.
- Die verschwurbelten Verweise auf Interessenausgleiche. Keine Maßnahme dürfe Arbeitsplätze kosten. Das klingt weder nach wirklicher Erkenntnis noch nach einem engagierten Gestaltungswillen.
- Das Totschlagargument, man brauche internationale Lösungen, wird als Begründung fürs Nichtstun wahrgenommen (das betrifft gleichermaßen die Thematik, dass viele internationale Konzerne hierzulande kaum Steuern zahlen).
- Das formale Muster einer Hybris und einer Verächtlichmachung von Kritikern, die nicht dem politischen Establishment angehören und jünger sind als selbiges.
- Die Parteien haben einen dringenden Nachholbedarf im Einsatz kampagnenfähiger Videos, die sich viral verbreiten.
- Apropos: Die Kommunikationsmuster des Internets haben die GroKo-Parteien nicht verinnerlicht. Auch deshalb wirken sie so altbacken und uncool und weit entfernt von der Lebenswelt der jüngeren Generationen.
- Den ikonographischen Wandel der Kulturvermittlung von ehedem textgebundenen Inhalten hin zum Lernen und Erleben durch (bewegte und bewegende) Bilder haben die Regierungspolitiker offenbar konsequent ignoriert.
- Und eben: Klimaschutz, das sollten politische Parteien zur Kenntnis nehmen, ist kein Wahlkampfthema, das man – je nach Kassenlage – umsetzen oder sein lassen kann. Sondern es ist die Meta-Agenda.
Die handlungsträge Politik agiert, das zeigt sich auch hier, üblicherweise nicht dann, wenn es vernünftig ist, sondern erst dann, wenn sich Druck aufgebaut hat. Dieser Druck entsteht meist durch Bilder, also eine Visualisierung eines drängenden Themas. Ohne Bilder kein Notstand, weil kein vermittelbares Thema. Ein schmelzender Gletscher oder ein abbrechender Eisberg kann von den Risiko-Atheisten als Naturwunder und völlig normales Geschehen deklariert werden.
Die Politik hat sich beim Umweltschutz gleichsam entmächtigt
Wissenschaftler können das becoming real der Klimakatastrophe mit ihren Beobachtungen, Zahlen und Simulationen zwar täglich erleben. Aber für den geneigten Bürger ist die Klimakatastrophe eine abstrakte und schleichende Gefahr. Sie bietet keine dramatischen Ansichten wie die der einstürzenden Zwillingstürme in New York oder der Tsunamiwelle in Thailand oder der explodierenden Reaktoren in Fukushima. Sondern sie schreitet unsichtbar voran.
Die Jugendlichen wissen das, sie brauchen keine obszönen Gewaltvisualisierungen, und sie fürchten um ihre Zukunft. Ermächtigt haben sie sich zu einer neuen sozialen Bewegung, weil sich die herrschende Politik beim Umwelt- und Klimaschutz gleichsam entmächtigt hat.
Die Gefahren für das Überleben der Menschen sind offenbar unkalkulierbar geworden. Sie lassen sich womöglich nicht mehr technisch oder durch „Innovationen“ bewältigen wie früher, was manche Fernseh-Politiker indes auch diesmal irgendwie noch erwarten. Und weder die Nationalstaaten noch die supranationalen Einrichtungen haben eine Lösung dafür.
Die Staatengemeinschaft benötigt Foren, auf denen so große Fragen öffentlich diskutiert werden können. Etliche rücksichtslose Silberrücken in der Uno-Vollversammlung (in der Regel sind es Männer) leugnen einstweilen, dass es nicht um irgendein Umweltproblem oder eine technische Lösung der Klimakrise geht, sondern um eine tiefgreifende Änderung unserer Lebensweise.
Problemfunktionäre begreifen Atom, Öl und Kohle als „Sachzwänge“
Auch deshalb werden Gewohnheits-Apologeten aus Industrie und Politik von einer ganzen Generation wahrgenommen als Problemfunktionäre, als Teile des Problems, nicht der Lösung. Sie blockieren radikale Veränderungen, die nötig wären. Atom, Kohle, Plastik, Öl, Verbrenner – für die herrschende Politik waren dies alles „Sachzwänge“, ohne die wir nicht mehr so leben könnten, wie wir es gewohnt sind. Entweder sie wissen es nicht besser oder sie täuschen die Menschen vorsätzlich. Beides zerstört Vertrauen.
Deshalb wählen die jungen Menschen immer weniger die Veränderungsverhinderer und votieren mehrheitlich für die Bannerträger der kosmischen Verantwortung – die sie in den Grünen sehen. Diese Partei versteht es, Gemeinwohl für die jungen Generationen zu definieren. Ein Gemeinwohl, das mit Umwelt-Achtsamkeit einhergeht und dem Arbeitsplätze (z.B. in der Kohle-Industrie) sowie typisch deutsche Gewohnheiten (Förderung von Dienstwagen, Dieselkraftstoff und Flugbenzin) unterzuordnen sind.
Die Umweltpartei wird beweisen müssen, dass sie die richtigen Weichen stellen und uneinsichtige Bürger und Firmen bewusst belasten wird. Und dass sie über das eigene Verursacher-Land hinauswirken kann. Das ist ihr Anspruch. Ihre Erfolge beruhen auf der Erwartung der Menschen, neue Lösungen zu erleben. Dafür werden sie nicht umhinkommen, den Menschen mit einer Blut-Schweiß-und-Tränen-Kommunikation nahezubringen, dass einige Pfründe, Gewohnheiten und liebgewordene Sünden abgeschafft bzw. sanktioniert werden. Sie werden das tun müssen, was sich die GroKo nicht traute: früherer Kohleausstieg, schnellerer Stromtrassenbau, funktionierende Lenkungswirkung zur CO2-Senkung, Verkehrswende, Abkehr von Plastikverpackungen, beschleunigte Klimaneutralität.
Rechtsaußen-Gruppen meinen, Umweltschutz werde überbewertet – wie das Waldsterben in den 1980er Jahren
Auf internationaler Ebene verkörpert US-Präsident Donald Trump als Rekrut der Restauration, als soziopathischer Kämpfer gegen die Vernunft und gegen die Wissenschaft den rückständigen Nationalismus. Er lässt den verletzten Globus gleichsam am Straßenrand liegen und donnert zum nächsten Deal. Man lebt nur einmal. Work hard, play hard. Wer sich als Held fühlt, kann Gefahren ausklammern. All jene, die das dekadent oder imperialistisch nennen, müssen auch nicht von den Rednecks im Rust Belt wiedergewählt werden.
Dazu formulierte die berühmte 85-jährige Schimpansenforscherin Jane Goodall im SZ-Magazin sehr fein: Wer die Klimakrise, die Umweltverschmutzung und die Gefahren für den blauen Planeten und seine künftigen Generationen leugne, könne nicht sehr gebildet sein. Die Menschheit benötigt ein planetares Risikomanagement, das aber mit den America-, Russia- und China-First-Herrschern nicht zu betreiben ist. So weit, so schlecht.
Auch in Europa meinen Vertreter von Rechtsaußenparteien, zivilisatorische Gefahren würden öffentlich dramatisiert – alles nicht so schlimm wie in den Medien dargestellt. Die Risiken seien behandelbar wie technische Themen, bei denen es nur an der Höhe des eingesetzten Geldes läge, wie schnell sie mit Innovationen gelöst bzw. minimiert werden könnten. Gerade der Umweltschutz sei immer von technischen Erfindungen befördert worden.
Jedes ökonomische Handeln wird legitimieren müssen, dass es ökologisch vertretbar ist
Das Waldsterben der 1980er Jahre wurde eingedämmt, so argumentieren sie, u.a. durch die Entwicklung und Einführung des Katalysators in den Auspuffen der Verbrennerfahrzeuge. Das Ozonloch in der Stratosphäre sei nicht so stark gewachsen wie befürchtet, weil FCKW-freie Kühlschränke auf den Markt gebracht wurden. Und gegen die Klimakrise werde sich die Industrie gewiss auch etwas Findiges einfallen lassen… Sorge sei ja berechtigt, aber nicht diese Weltuntergangshysterie. Solche Probleme hätten die Wissenschaft, die Wirtschaft und die Politik noch immer gelöst.
Die Leugner des Klimawandels werfen den Jugendlichen vor, sie ließen sich instrumentalisieren von fortschrittsfeindlichen Gruppen, die unsere Lebensweise und unsere Privilegien in Frage stellten. Aber selbst, wenn alle Prognosen zu pessimistisch wären und die Uhr nicht fünf vor zwölf, sondern zwanzig vor zwölf zeigte, bliebe die Einsicht, dass sich die Menschen ein Nichtwissen oder Verdrängen der Gefahren nicht leisten können.
Die Gesellschaft muss zwingend lernen, Wirtschaft, Politik und Natur gemeinsam zu denken. Das eine funktioniert nicht ohne das andere. Jedes ökonomische Handeln und jede politische Entscheidung, die Auswirkungen auf den gesellschaftlichen Konsum haben, sollten im Einklang mit Umweltgesichtspunkten stehen.
Die Politik wird nicht umhinkommen, Folgekosten von Wirtschaftsproduktionen zu bewerten, den Unternehmen – und damit den Bürgern – diese Konsequenzen aufzubürden und Entscheidungen zu treffen, ob diese Verfahren angesichts der Umweltbeeinträchtigungen überhaupt vertretbar sind. Einige Pfründe werden geopfert werden müssen. Alle gesellschaftlichen Aktivitäten werden in nicht ferner Zeit womöglich einer Rechtfertigungsklausel unterliegen – und zwar weltweit: Ist dieses Handeln, dieses Produkt, dieses Angebot umweltpolitisch vertretbar? Oder reicht sein reiner Produktnutzen vor dem Hintergrund seiner ökologischen Folgeschäden nicht aus für eine Produktionsgenehmigung?
Die Dinos amüsieren sich im Jenseits über das kafkaeske Verhalten des anmaßenden Menschentiers
Das hat Deutschland beim Ausstieg aus der Atomindustrie schon entschieden und beim Kohlekompromiss ebenfalls. Künftig werden Politiker viel stärker eingreifen müssen in wirtschaftliche Effekte. Dadurch können sie Glaubwürdigkeit legitimieren.
Das Recht auf die Freiheit, die Umwelt, den Planeten, die Lebensgrundlagen und die Menschen nach Gusto zu schädigen, war immer zweifelhaft. Und viele Verschmutzer haben sich asozial verhalten. Das kann sich die Menschheit inzwischen nicht mehr leisten.
Sonst wird geschehen, wovor die Fridays-for-Future-Demonstranten auf ihren Plakaten warnen: Die Dinosaurier, die extrem lang die Erde beherrscht haben, werden sich im Jenseits kaputtlachen über die selbsternannte „höhere Intelligenz“ des anmaßenden Menschentiers. Das vorgeblich denkende Wesen hätte es geschafft, seine eigenen Lebensgrundlagen und sich selbst in wenigen Generationen auszulöschen. Und die Zeichen des dräuenden Suizids hätte es in jener kafkaesken Periode der Selbsttäuschung als Symbole für „Fortschritt“ und „Zivilisation“ präsentiert.
Herzlich, Ihr
Matthias Michael, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Reputationsmanagement